Der Mönch aus dem Süden

Zoketsu Norman Fischer hatte vorgestern einen Dharma-Vortrag gehalten, der in mir so stark nachschwingt, dass ich meine Erkenntnisse dazu heute während unseres morgendlichen Zazens in einen kurzen Vortrag eingeflochten habe.

Mir wollte es so scheinen, als sei dieser Konflikt, ob nämlich Diskussionen über den Buddhismus Vorrang haben sollten gegenüber der direkten Erfahrung der Praxis, dem Buddhismus inhärent sei,  damit auch uns selber nicht zu ersparen ist. Ich würde also antworten, dass wir stets, auch wenn wir es nicht bemerken, beide Seiten in uns tragen, und wenn diese Tatsache sich darin zeigt, dass wir uns einer Möglichkeit zu diskutieren, enthalten und lieber zum Zazen erscheinen.

Als gutes Beispiel wurde angeführt, dass im Zentrum in San Francisco darüber diskutiert wurde, ob man nicht lieber zu einer bedeutenden Demonstration gehen solle, anstatt den Zen-Ablauf-Plan einzuhalten. Schließlich entschied man sich zu einer freiwilligen Teilnahme derer, die sich mehr zum öffentlichen Zeugnis-ablegen hingezogen fühlten.

Ganz befriedigt hat mich diese Lösung nicht. Aus meiner Trainingszeit als zertifizierte Gruppenleiterin erinnere ich gut, dass uns immer wichtig war, Komfortzonen zu erkennen und diese zu verlassen. Eben weil es kein Richtig oder Falsch auf diesem Gebiet gibt. Wer also eher dazu neigte, die Stellung zu halten und sich der Stille anheim zu geben, zum Preis, eine öffentliche. politische Aussage zu verpassen, würde angeregt, das eher Ungemütliche zu tun. Während eher aktivistische Menschen erwägen sollten, ihre Aktivität eher nach innen zu verlegen.

Es hätte auch Charme, wenn der Zen Priester bzw. die Zen Priestern mit den Praktizierenden gemeinsam zum Ort des Geschehens gehen und diesen eventuell genauso “halten” würde wie den Raum im Zen-Do. Mit Kreativität und Mut wäre denkbar, die Zazen nach draußen zu verlegen, wie es an einigen Orten schon geschehen ist – ich sah Fotos von derartigen, mutigen Veranstaltungen, von denen eine große Kraft ausging (Zum Beispiel hielt ein Dharma-Erbe von Bernie Glassman Roshi aus Solingen, Heinz-Jürgen Metzger Roshi,  regelmäßig Zen-Sesshins in Buchenwald ab – übrigens zu einem auffällig niedrigen Preis. Ich habe seine Arbeit, die er ebenso als Dienst ansah wie die in seinem Dojo, sehr geschätzt. Dennoch habe ich den internationalen, interreligiösen großen Retreats mit Bernie Roshi und seinen Kolleginnen und Kollegen den Vorrang gegeben, genau WEGEN der Internationalität und der freieren Komposition des Retreats.)

Damit würde die Leiterin/der Leiter gleichzeitig auch Farbe bekennen und NICHT, wie von der Regierung gewünscht, “business as usual” betreiben. Beides kann und wird jedoch, unter Umständen, eine große Wirkung entfalten, denn die Stärke der Zen-Praxis liegt in ihrer unumstößlichen Regelhaftigkeit.

Wir sollten auch bedenken, wenn wir eine Wahl treffen, egal, ob wir eher Mönche und Nonnen des Südens oder des Nordens sind, dass die kollektive Vorliebe der derzeitigen US-Amerikanischen Administration eher für die Komfortzone “business as usual” spricht. 

Prof. hc Ruth Cohn hat mich aber auch gelehrt, vor allem über mich selber zu sprechen, im weitesten Sinne die Frage beantwortend: Was ist jetzt lebendig in mir? und damit ein Selbstportrait abzugeben, eine Einladung an die anderen, ebenfalls mutig zu teilen, was ganz oben „aufliegt“. Wo die stärkste Energie liegt. Das könnte auf kollektiver Ebene immer wieder heißen, vor allüber die eigene Regierung zu sprechen. Und was die Komfortzonenverteilung bei mir selber angeht, so ist es tatsächlich ein dynamischer Balanceakt. Mutter Teresa, so wird berichtet, hat halbe Tage lang gebetet und die andere Hälfte auf den Straßen verbracht. Und „Ora et labora“, die Benediktinische Regel, würde der ganzen Gesellschaft helfen, ihr wahnwitziges Tempo zu drosseln und größere Lebendigkeit und Lebensfreude zu erleben.

Dabei könnten unsere Freunde, die US-Amerikaner, von uns Deutschen lernen, dass es eine demokratische, moralische Pflicht und Selbstverpflichtung, ein privates Gelöbnis wie bei mir, geben kann, offensichtlichen Rechtsverletzungen „auf der Straße“ mit offenem Visier zu begegnen: Gewaltfrei und voll da. Mit einer solchen Haltung würde man viele inspirieren können, die weder die Erfahrung noch den Mut haben, öffentliche Zeichen in einer Weise zu setzen, die Reife und Charakter verlangen.

Nach dem Holocaust und der Mitschuld deutscher Zeuginnen und Zeugen, auch vieler Geistlicher und Künstler, legten viele einen Schwur ab, auf keinen Fall im “Elfenbeinturm” hocken zu bleiben oder sich in einen solchen zurückzuziehen, wenn unsere Nachbarn, Freunde und Kolleginnen brutalst bedroht, eingeschüchtert, verjagt würden.

Meine deutliche Meinung dazu ist, dass Zen-Dos, Kirchen, Klöster, Tempel, Wohnzimmer und Arbeitsplätze wie Elfenbeintürme sein und wirken können. Ich sage bewusst: können. 

Fragen wir doch in dieser Angelegenheit unsere mexikanischen Brüder und Schwestern, und andere marginalisierte Menschen, welche von den beiden Polen buddhistischer Praxis ihnen mehr Kraft gibt, wenn sie an uns denken, während Polizisten mit Teaser und Helm sich nähern. Hören wir genau zu, was sie nährt, von welcher Solidarität sie träumen. Vielleicht können wir bewusst  ein paar zusätzliche Tropfen Liebe in die konfliktreichen Situationen geben.

Wir sollten nicht unterschätzen, welche Handlungen von wenigen ein ganzes, großes Lager wie Birkenau aufrichten konnten! Äußerlich gesehen hatte sich kaum etwas geändert. Aber innerlich, wie bei einem Lauffeuer, erreichte die unerhörte Tat von Vater Maximilian Kolbe nach und nach alle Insassen, auch in anderen Lagern. Man hielt sich wieder für würdig. Was hatte Maximilian Kolbe getan? Er hatte zu einem deutschen Wachmann gesagt „Nehmen Sie mich“, als dieser gerade einen anderen Mann aus der Reihe frierender, hungriger Gefangener verdonnern wollte zu einer extra Haftstrafe. Der Priester wurde in eine absurd kleine Gefängniszelle gesteckt, mit mehreren anderen, die die Besucher heutzutage noch sehen können. Die Gefangenen mussten stehen, hungernd und durstend. Einer nach dem anderen starb qualvoll.

Bei unserer Pilgerreise im April 2025 hätte ich gerne vor dieser Zelle länger verharrt, mit meinen Freunden, meditierend. Aber das ist wegen der hohen Anzahl von „Besuchern“ leider nicht möglich. – Es gab andere Geschichten menschlicher Größe, die halfen, es gibt sogar mehr davon, als wir denken. Denn ohne Aufopferung, ohne Teilen eines winzigen Stückchen Brotes, ohne kleinste Zeichen Mitmenschlichkeit wäre man gestorben.

In den Gemälden von Marian Kolodjzeij, dem Theater-Regisseur und Maler, einer der ersten polnischen politischen Häftlinge in Auschwitz, der fliehen konnte, sehen die Besucher der Ausstellung  Augen, überall Augen: Die warmen Augen von Maximilian Kolbe, oder sein Gesicht, sein Körper am Kreuz oder wo auch immer, er war gegenwärtig, DA. In den anderen. Bei den Anderen.

Man glaubte, wusste wieder, dass es irgendwo Menschen gab, denen man vertrauen konnte. Vielleicht glaubte man sogar wieder an Gott, an Wunder.

Man zählte.