In diesen drei Monaten von November 2022-2023 ist Schwester Mary der dritte mir so liebe Mensch gestorben. Wer ihr begegnet ist, meist im grossen Foyer des „Zentrums für Dialog und Gebet“, in Auschwitz, wo die grossen, internationalen Zenpeacemakergruppen untergebracht waren, entspannte sich unmerklich und lächelte. Sister Mary stammte aus Irland, und sie war immer zugegen, wenn wir erschöpft und beseelt zugleich von einem Praxis-Tag in Birkenau gegen 17 Uhr oder später zurückkehrten und uns in die Schlange am Tresen einreihten, um Kaffee oder Tee zu kaufen. Ich sehe sie wirklich ganz lebendig vor mir, die schmale, kleine Frau in Hosen und einem vielleicht rosefarbenen Pullover, die starken, grauen Haare flott nach unten gekämmt, und lächelnd, unbefangen auf mich – oder andere – zugehend. Im Nu war man vertraut mit ihr, sie wusste einfach, wie man sich fühlte, nach so einem Tag. An meinem allerersten Tag, einem Dienstag, stand sie gleichsam bereit, mich zu empfangen. Als Deutsche fühlte ich mich gesehen und „abgeholt“, auch wenn das Wort etwas altertümlich wirkt. Sister Mary hatte diese seltene Gabe, die ich schon bei Rabbi Singer beschrieb, schwesterlich und mütterlich zugleich sein zu können: Einfach und unkompliziert nahm sie einen beim Arm und führte mich so zu einer der kleinen Sitzgruppen, links von der Treppe. Was für eine wunderbare Seelsorgerin! Bei der Anzahl und Größe der Besuchergruppen wird sie noch eine Menge anderer Aufgaben zu tun gehabt haben – ich habe es ihr nie angemerkt. Weil sie präsent war, leicht zwischen ernst und heiter hin und her wechselte. Und sich dabei so wenig wichtig nahm, dass sie auch stets aus dem Hintergrund wirkte. Sister Mary ist ein großes Vorbild für mich, und ich weiß doch auch, dass sie mich mochte und mich ermutigen würde, einfach ich selber zu bleiben, zu sein.

2010 fand das Zeugnis-Ablegen-Retreat mit Bernie Glassman Roshi ausnahmsweise im Sommer statt, und es war mein erstes. Das hatte den Grund, dass man im November eine Retreat für junge Menschen anbieten und abhalten wollte. Es war mein erstes einwöchiges Retreat, und ich war entsprechend aufgewühlt. Das Mehrbettzimmer mit sieben oder acht Gefährtinnen erwies sich als große positive Überraschung. Das Zimmer war geräumig genug für uns alle, mit hohen Fenstern zur Wiese, und wir kamen gut miteinander aus, hatten viel Spaß und führten ernste Gespräche. Ich erinnere mich an eine Runde GfK (Gewaltfreie Kommunikation) und dass wir vor dem Abendessen immer geruht oder geschlafen haben, so fertig waren wir. Auch von der glühenden Sonne, der hohen Temperatur im Juni.

Sister Mary war die Seele des Hauses, an der Seite von Vater Manfred, flankiert von freundlichen Mitarbeiterinnen hinter dem Empfangstresen, der Kaffeebar und den vielen, die in Küche und Hauswirtschaft arbeiteten. Einmal bat ich um ein Einzelgespräch – oder bot sie es mir an? -, und Lasten fielen von mir ab. Was bedeutet es, angenommen und verstanden zu werden?! Scheinbar nicht viel, aber immer habe ich mir eine Scheibe abgeschnitten für meine eigenen Begegnungen, Beratungen, Begleitungen. Gerade wird mir bewusst, welchen Reichtum an spiritueller und menschlicher Kompetenz ich in all diesen Jahren erleben durfte, und ich fühle mich reichlich beschenkt. Seitdem habe ich mich in religiöser Hinsicht ständig weiter entwickelt und habe den Weg, während ich ihn unter meinen Füssen erspürte, entstehen lassen. Manchmal habe ich mir vorgestellt, für eine längere Zeit in dem Zentrum In Auschwitz auszuhelfen, zu „dienen“, zu praktizieren. Wer weiß, vielleicht mache ich das noch. Ich würde mich dann innerlich ganz tief auf Sister Mary einstimmen und mich von ihr leiten lassen.

Wir haben uns stets beide voreinander verbeugt, was ihr leicht von der Hand ging; sie war ja, zusammen mit Vater Manfred, auch Teil des Leitungskommitees der Zenpeacemaker, das fast ganz aus buddhistisch Praktizierenden bestand.

Mit einer besonders tiefen Verbeugung, geliebte Sister Mary, nehme ich Abschied von Dir und bete für Dich täglich, bis zum 49. Tag. Du würdest es bestimmt geschätzt haben, und versonnen lächele ich Dir unter einem wilden irischen Himmel zu.

Sister Mary O‘Sullivan RSM (Religious Order of the Sisters of Mercy) [24.5.1947 – 21.01.2023] hinterlässt, ich spreche nur für mich – einen sanften Klang.

 

 

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