Spielräume oder ‚Die Kunst der Reparatur‘*)
Zitat: “Die Kunst der Reparatur entfaltet eine anarchische Kreativität in Opposition zu den perfektionistischen Versprechen, alle Dinge wieder wie neu oder gar noch besser zu machen.”*)
Wir erinnern uns an unsere Erkenntnis über Dinge, die miteinander verschränkt, verschweißt, über ein Gelenk miteinander verbunden sind: Spielraum muss sein. Durch ein zu festes Aneinander, Miteinander kann die Beweglichkeit der Teile erstarren und brechen. “Spiel” soll da sein, und man meint: Raum. Wenn sogar tote Gegenstände bei ihrer Interaktion bestimmte Bedingungen brauchen – wieviel mehr erst der Mensch! Wenn jemand zum Ausdruck bringt: Da ist nicht genug “Spiel”, dann meint diese Person, wir müssen aufpassen, hier kann etwas brechen, man kann kaum regulieren, reparieren, keine Hand passt mehr dazwischen.
Ich bin mit Menschen, meist jüngeren, befreundet, die kaum Spielräume zu haben scheinen. Ist diese Wahrnehmung meinem eingeschränkten Blick geschuldet, vom Status einer Rentnerin ohne Anhang, mit mittelmäßiger, sogar kleiner Nachfrage nach ihren Seminar-Angeboten? Manchmal bin ich erschrocken, öfter nachdenklich: Wie ist das, buchstäblich keinen Platz für Unvorhergesehenes, Freiraum, Spielraum gelassen zu haben? Wäre das Leben lebenswert, erstrebenswert für mich, wenn ich nicht spontan mal ein bis drei Stunden länger meditieren oder schreiben könnte? Wenn ich keine Wahl hätte, zum Beispiel zu laufen, statt mit der Straßenbahn zu fahren? Manchmal habe ich diese Wahl nicht, oft mehrere Tage lang nicht, aber ich nehme mir immer die Zeit, ein- oder zweimal zu meditieren, zu schreiben, mit Freunden zu telefonieren, und wenn ich nur einen Termin verabreden will.
Das habe ich gelernt. Lange fühlte ich mich abends unzufrieden, unnütz, es war so wenig sichtbarer “Output” da. Prioritäten hatten sich verschoben. Mein Leben bzw. die Beziehung zu diesem, wollte repariert werden. Die Beziehung zu mir, meinem Geist und Körper, wollte verfeinert werden. Die Beziehung zu mir nahen Menschen – wer definiert diese Nähe eigentlich? Muss sie definiert werden? – hatte hier und da gelitten. Gab es Handlungsbedarf? Oder einfach nur Dank auszudrücken? Eine kraftvolle oder leise Entschuldigung, eine Einladung? Trennung? Genauer, klarer?
Reue, hier und da, mit oder ohne Ritual? Beziehungen wie Leinenstoff, den ich so liebe. Lebendig, atmend, leise glänzend, reparierbar. Ich trage gern weit geschnittene Blusen mit Spielräumen. Ohne oder mit T-Shirt darunter zu tragen. Als Jacke im Sommer. Über einem Schlafanzug, wenn ich zu Besuch war, hat sie auch schon fungiert. Wenn ich mein “Lätzchen” (japanisch: ‘Rakusu’) über die schwarze Bluse ziehe, nimmt man mir die laienordinierte “Nonne in der Welt”, die Dharma-Lehrerin, ab – jedenfalls zeige ich diese Berufung auf diese Weise nach außen.
Freude ist ein unentbehrliches Kriterium. Da Spielen und Überraschungen Freude schenken, rauben wir uns selber Freude, sobald wir Spielräume kappen. Wer sich selber keine gönnt, findet es schwer, sie anderen zu gönnen. Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass ich Freude an meiner Arbeit habe, die mir Berufung und Erfüllung ist; dazu gehört auch das Lehren buddhistischer Meditation, die Einladungen, mit mir Zazen zu üben.. Ebenso, wie ich Freude an Verantwortung habe. Ich mag Herausforderungen, Lernen, Risiken. Gerade wegen dieser hohen Verantwortung und der Vorbildrolle, die ich oft einnehme, ist es mir wichtig, sowohl Fehler zuzugeben, Unordnung und Hilfsbedürftigkeit – kontrolliert – zu zeigen wie auch meinem Bedürfnis nach Feiern, nach Spielräumen Rechnung zu tragen. (“Feiern” hier nach der Definition von Marshall Rosenberg verstanden, welches ganz still, im Ritual oder völlig anders ausgelegt werden kann).
Reparaturen sind bei einem solchen Leben, das, wie ein Baum, von innen nach außen wächst, stets mit eingeschlossen. Der Henkel an der Tasse wird gleich nach dem Abwasch wieder angeklebt und steht solange auf dem Fensterbrett. Der Teppich wird wie früher gereinigt, in dem man Natron auf ihn streut, einwirken lässt und dann staubsaugt.
Der Stapel mit zu flickenden Socken und anderer Kleidung ruft mal wieder nach einer gemeinsamen Stopf-Runde oder dem Hören einer gemütlichen Radiosendung.
Mein Fahrrad habe ich früher immer selber geflickt, ich versuche, diese Kunst wieder zu erinnern. Und dann gibt es ja noch diese wunderbare Einrichtung von Repair-Cafés! Ich fühle mich richtig motiviert, mir für diese alten Tätigkeiten wieder mehr Zeit zu nehmen. Viel davon werde ich mir nicht nehmen können, weil ich ja auch mehr schreiben möchte. Aber vielleicht gehören ja Schreiben und Schreibkunst lehren auch zur Kunst der Reparatur: Des Einzelnen wie auch der Welt.
„Wenn Homo sapiens eine Zukunft haben will, muss er akzeptieren, das er nicht Herr der Natur ist, sondern nur für sich und die von ihm gemachten Dinge zuständig ist. Er muss sie so gestalten, dass sie den anderen Lebewesen nicht schaden, denn was der Mensch nicht reparieren kann, wenn er es verdorben hat, soll er nicht antasten.“ (idem, S. 186)
*): Wolfgang Schmidbauer: Die Kunst der Reparatur – Ein Essay