Einführung:
Im Mai 2016 luden die beiden Zen Lehrer Barbara Wegmüller und Frank DeWale, beide jetzt längst Zen Meister – von Roshi Bernie Glassman ordiniert – zu einem Bosnien-Herzegowina-Zeugnis-Ablegen-Retreat ein: Ich konnte gar nicht anders, als mich anzumelden. Mich hatte der Krieg, den der Grüne Parlamentarier Joschka Fischer aktiv befürwortete, sehr erschüttert. Wie mich die zunehmende Islamfeindlichkeit unangenehm berührte. So unangenehm, dass ich diese schwere Entscheidung, für Wiedergutmachung an Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma und anderen im Holocaust Umgekommenen oder Verfolgten entschieden zu gehen, erweiterte: Jetzt würde ich Muslime einbeziehen wollen, um mich integer zu fühlen. Nicht alle haben das verstanden, vielleicht sogar nur wenige. Auch die Flüchtlinge, die oft mehrmals ihr Leben riskierten, um über das Mittelmeer nach Europa zu entkommen, gingen mich etwas an. Papst Franziskus sprach seit 2013 spätestens von dem 3. Weltkrieg und berührte eine verletzliche Stelle in mir.
Dieses Retreat sollte mich nicht mehr loslassen. Meine Gedanken und Gefühle kreisten um die neuen, jungen Freundinnen und Freunde, mit denen wir schon am ersten Abend nach unserer Ankunft im Kreis saßen: Wie besonnen sie sprachen, wie gut ihr Englisch war, wie eindringlich sie uns anschauten! Ich sehe den Kreis ganz oben im Hotel Saraj noch vor mir, auf dem Dach des an einen Felsen geschmiegten, großen Hauses. Hier, wo wir auch mehrmals im großen Kreis mit allen Teilnehmern saßen, befand sich früher ein Schwimmbad. Bis zu diesem Moment im familiären, kleinen Kreis, in welchem auch zwei deutsche Zen Meister mit mir saßen, hatte ich Jahre lange Erfahrung, mit Deutschen Kriegskindern in Kreisen zu sitzen, in der Dialog- und Schreibwerkstatt. Diese jetzt sehr alten Menschen waren und blieben gezeichnet, von dem, was sie mit acht Jahren (Gerda) oder mit zwei Jahren (Inge) oder mit sechzehn Jahren (der Mann von Heiderose) erlebt und geschildert, geschrieben und vorgetragen hatten.
Ich weinte, als ich von meinen schuldigen und auch traumatisierten Großeltern, meinen Eltern erzählte, von den Hunderten Fremdarbeitern, die die mütterliche Seite in ihren Fabriken in Posen und Thüringen beschäftigten. Von deren Flucht, den Vergewaltigungen … – und ich spürte Resonanz. Jeder wusste, wovon ich sprach. Diese jungen Bosnischen Frauen, junge Männer hatten zwischendurch Panik in ihren Augen. Sie wünschten leidenschaftlich, für Versöhnung, für Frieden arbeiten zu können. Deswegen waren sie mit uns und hatten das Retreat mit organisiert. Ich lernte etwas von der Geschichte dieser für uns so bezaubernd aussehenden Stadt Sarajevon mit ihren Minaretten, dem Fluss, dem Nebeneinander der verschiedenen Gotteshäuser, den Gassen mit den Zünften der entsprechenden Handwerker…, dem köstlichen Kaffee aus den kupfernen Kannen und den sanften Hügeln im Hintergrund.
Aber ach! Die Menge der Reihen weißer Holzkreuze auf dem einen Hang! Die Einschusslöcher in Wohn- und anderen Häusern! Die aufgelisteten Namen am Mahnmal und die wahren Geschichten: die Belagerung Sarajevos, der Tunnel, der Hunger, die Angst. Immer noch konnte und durfte man nicht einfach alleine in der Umgebung herumfahren und einfach aussteigen… Vahidin Omanovic und Mevludin Romanovic leiteten die Gruppe und das Center for Peacebuilding. Wir freundeten uns an, und ich versprach: Ich komme wieder und besuche Euch! – Auf dieser Friedensfahrt traf ich Michel Dubois Roshi aus Paris wieder, wir hatten uns in den Black Hills kennen gelernt, bei dem Lakota-Retreat 2015. Fast den gesamten Sommer hatte ich in den USA mit Zen Praxis verbracht. Meine Wohnung in Bonn war aufgelöst, die Sachen waren in Container und warteten auf mich, in ein Zimmer in einer Haus-WG eingeräumt zu werden.
Eines Tages war es soweit: Katrin Michels und Luis Padberg hatten beide Bosnische Flüchtlinge in ihren Schulklassen erlebt. Na klar, sie würden mitfahren! Es war wunderbar mit den beiden! Später traf ich noch Juliane Funk, die auch auf dem ersten Retreat in Bosnien dabei war. Wir beide schliefen in einem Hotel, ein paar Kilometer vom Friedenscamp entfernt. Täglich wurden wir großzügig abgeholt und wieder „nach Hause“ gefahren.
Die Erfahrung der Herzlichkeit des Willkommens werde ich nie vergessen. Schon, als wir spät abends, nach langer Busfahrt von Sarajevo in Sanski Most ankamen, unter schwarzem (!) Himmel, wurden wir von dunklen, lachenden Gestalten begrüßt wie vermisste Verwandte. Und irgendwie stimmte das auch. Ich erwog bei der Abreise, ob und wie ich dort leben könnte und war länger traurig, nicht so richtig einen Weg für mich sehen zu können. Außerdem mag ich nicht so weit von meiner Tochter Lisa entfernt leben…nun ja. Ich schreibe dies am 18.5.2025.. Werde noch nach ein paar alten Texten von damals suchen und jetzt aber erst einmal meinem Freund und liebem Sangha-Mitglied Luis Padberg Platz geben:
Von Luis Padberg (aus meinen Notizen)
14.09.2021 im Flugzeug Richtung Sarajevo
Fliegen hat immer eine besondere Wirkung auf mich. Der Moment des Abhebens löst ein starkes Gefühl aus. Es liegt irgendwo zwischen Euphorie, Ehrfurcht und Staunen. Heute habe ich es alles auf Video dokumentiert – für die Kinder – und mir sind beim Sprechen fast die Tränen gekommen. Ich war irgendwie berührt und gerührt, weil ich quasi zu meinen Kindern gesprochen habe, die gerade beim Amin und in der Schule sind.
Das Flugzeug bringt mich von ihnen und von der tollen Manu, die sie hütet und bei der ich sie sicher weiß, weg. Dieses sich entfernen und gleichzeitige zu ihnen sprechen hat eine unheimliche Kraft.
Ich freue mich sehr auf das Unterwegs sein, auch auf das Allein sein und auf die Begegnung mit anderen Menschen und Umgebungen. Ich bin gespannt auf neue Eindrücke, auf bewegende Momente und Erfahrung meines Selbst. Ich will meine gemütliche „Komfortzone“ verlassen und anstrengende, fordernde Momente durchleben, um an Schmerz und Trauer zu arbeiten. Ich will Achtsamkeit üben und das Jetzt bewusst erleben. Ich will ehrliche Freude teilen und das Leben feiern. Egal wie es alles geschieht und passiert, es ist genau richtig SO.
Traurigkeit und Angst vor der Leere und dem Nichts.. Was, wenn da gar nichts weiter ist? Kein Sinn, keine Hoffnung oder Zuversicht auf Zufriedenheit und Erfüllung. Einsamkeit trotz Gesellschaft.
Heilung und Erlösung kann nur in mir selber wachsen. Wärme und Interesse, Zärtlichkeit für die eigene Seele.
16.09. Sarajevo, vor irgendeiner Kirche auf dem Boden mit Monika Zeugnis ablegen
Ich wollte gestern so gerne weinen und schreien. Meine Trauer und mein Entsetzen und den Schmerz der Mütter Srebrenicas spüren und herausfließen lassen. Aber da kam nichts. Ich konnte nur die Hände vor das Gesicht schlagen und in Ungläubigkeit erstarren. Warum kann ich nicht weinen?
Unser netter Reiseführer Adi, er wusste soviel, hat sein Wissen mit viel Freude mit uns geteilt. Ich spürte auch, dass er sich an unserer Neugierde und an unseren Fragen erfreute. Dennoch war da etwas in seinen Reaktionen, wenn wir ihm etwas erzählten. Monika ihm zum Beispiel von Vahidin und dem Peace Camp berichtete, das sich wie eine innere Abwehr anfühlte. War es Desinteresse, weil er jeden Tag plappernde Touristen durch Sarajevo schleift oder eine Verweigerung sich mit bestimmten Dingen wirklich zu beschäftigen? Oder ist es anmaßend von mir, das in seine Blicke zu interpretieren?
Gestern Abend alleine loszulaufen war wichtig. Einfach den Berg hoch zu steigen, ohne zu wissen, wo man landen würde und dann über der erleuchteten Stadt auf dieser Bastion zu stehen, im Wind, umgeben von den Gesängen der Muezzins war erhebend und irgendwie klärend. Surreal war die Begegnung dort mit einer deutschen Schulklasse, anscheinend auf Abschlussfahrt mit ihrem Lehrer, der sich Sorgen machte, dass die Schüler*innen von der Mauer fallen könnten. Ich fand toll zu sehen, dass es Lehrer gibt, die mit ihren Kursen hierher kommen. Die Kommunikation der Klasse mit dem Lehrer war herzlich und inspirierend.
17.09 Sanski Most – Peace Camp
Die Sonne scheint durch die Plastikflasche, das Licht fällt unsichtbar durch die transparente Flüssigkeit und wird gebündelt. Auf dem Teppich erscheint ein heller Lichtfleck, wie bei einem Brennglas. Ob die Fasern des Teppichs wohl irgendwann anfangen zu kokeln?
Bosnien erscheint mir auch wie ein Brennglas. Die unterschiedlichen Kulturen und Religionen auf kleiner Fläche gebündelt und vermengt. Vahidin sagte gestern, seit dem Krieg ist die Mischung nicht mehr so wie vor dem Krieg: Serben, Bosniaken und Kroaten sind in Gemeinden und Städten konzentriert, isoliert. So entfremdet man sich sicherlich noch mehr: Stereotype und Vorurteile werden geschürt, gefüttert von Propaganda und nehmen zu. Insofern war der Krieg ohne Sieger in seiner perfiden Logik dennoch erfolgreich. Man könnte Krieg an sich, als riesige Maschine zeichnen, die sich selbst am Laufen hält, indem sie existiert und es verirrte Menschen gibt, die sie befeuern, lenken und als Lösung in Betracht ziehen. Ob diese Maschine jemals zum Halt kommen kann?
17.09., 23:25 – Sanski Most
Ich sitze unter dem Dach, am Tisch, neben mir sitzen Marcos, Amira und ein Mädchen, deren Namen ich nicht mehr weiß. Sie unterhalten sich auf Bosnisch.
Es war ein erlebnisreicher Tag, mit vielen Momenten der Ruhe und des Austauschs. Vormittags haben wir uns auf der Bina (einem erhöhten, überdachten Podest, der mit Teppichen ausgelegt ist) eingestimmt, sind gemeinsam zum Gemüsebeet gegangen und haben in „Stille“ das Beet vorbereitet und Knoblauch gesetzt. Den Jugendlichen fiel es schwer, in Stille zu arbeiten, in mir war trotzdem eine angenehme Ruhe. Dann hat uns der Regen „überrascht“, und wir sind unter das Dach gezogen, haben Kaffee getrunken, diesen süßen dunklen bosnischen Mokka. Juliane, Vahidin, Monika und ich haben uns unterhalten. Als es aufgehört hat, sind Katrin, Juliane und ich mit Selko zum Fluss Sana gelaufen und Katrin und ich sind in den eiskalten Fluss gehüpft. Als wir wieder zurück waren, fing eine Runde an, angeleitet von Vahidin, die sich mit den Problemen der Menschheit und unserer Länder beschäftigte. Nach der Klassifizierung der Probleme haben wir nach möglichen Lösungen gesucht. Julianes Beitrag hat mich sehr inspiriert. Ich glaube das Konzept hieß ungefähr: „Restorative Relationships“: Dadurch, dass wir mit unserer Umwelt und den Menschen in unserer Umgebung verändernd und positiv in Kontakt treten, verändern wir bereits etwas.
Die Erfahrung gemeinsamer Werte, geteilten Spaßes und Stille gibt uns Kraft und Inspiration für unseren Alltag. Wir nehmen etwas mit nach Hause.
Es ist eindrücklich zu sehen, wie die Jugendlichen unterschiedlich mit der Lage ihres Landes und ihres Umfelds umgehen. Milena zum Beispiel wirkt traurig und frustriert. Amar hat gesagt, er verliert manchmal den Mut, weil er keine Veränderung wahrnimmt. Es macht mich traurig, junge Menschen hoffnungslos zu erleben. Gleichzeitig ist es eine wichtige Erfahrung festzustellen, wie es den Menschen hier geht, nur 2 Flugstunden von Bonn entfernt, das voller Wohlstand ist.
19.09. Bina, Sanski Most
Nebel. Die undurchsichtige Suppe hängt in den Hügeln. Die Spinnennetze fangen die Wassertropfen aus der Luft.
Gestern Nacht auf dem kleinen Abendspaziergang waren wir auf dieser paradiesisch perfekten Wiese. Der Mond war noch nicht lange aufgegangen, der Himmel zwar wolkenverhangen, aber mit genügend Löchern, um ein paar Sterne und ab und an den Mond zu enthüllen. Ich hatte das Gefühl, absolute Schönheit genießen zu dürfen, dachte an die vielen tausend Wiesen dieser Art hier im Umkreis. Katrin sagte, sie fühle sich so sicher, wie geborgen von Gott, als würde er/sie/es ihre schützenden Hände über dieses Land halten.
Dennoch hatte ich auch abrupt ein ganz anderes Bild vor Augen: Chetniks mit Gewehren durchkämmen diese Wiese und die umliegenden Wälder auf der Suche nach (un)schuldigen Opfern, die sich verstecken. Ich stehe wie ein Beobachter da und frage mich, muss ich mich auch verstecken?
Ich habe an Monikas Methode gedacht: Dunkles, Böses, Negatives einatmen (für 4 Atemzüge) und Gutes, tTsformierendes, als kleine weiße Wölkchen ausatmen (für 8 Atemzüge). Währenddessen habe ich an die Symbolisierung meines Herzens, meiner Seele gedacht: eine weiße Blüte auf einem dunklen Teich, geschützt in einer goldenen, weiten Kuppel. Das hat sehr geholfen. Ich hatte die Erkenntnis, dass wir in der Lage sind, Realität zu verändern, alles durch unsere positive Energie. Nach unserer Rückkehr haben Katrin und ich Karten gespielt mit Mila, Yusuf, und Selko. „Jebko te tschatscha!“
Freude und Trauer liegen hier so nah beieinander. Die anderen haben bosnische Lieder gesungen und dazu getanzt, mit einer Inbrunst und einer Energie, die ich in Deutschland so bisher nicht erlebt habe (besonders ohne Alkohol). Manche hatten Tränen in den Augen, es war so melancholisch. Befreit und aus voller Seele, aber berührt und nachdenklich.
20.09. Sanski Most
Feine Regentropfen auf dem Blechdach untermalen die Szene mit einem stetig prasselnden, zarten Rauschen. Auf eine Plastikplane fallen vom Dach dickere Tropfen, ein Geräusch, wie von einem knisternden Feuer. Ganz selten fällt ein einzelner Tropfen auf etwas Metallenes, und ein hohles, klingendes Geräusch ertönt. Ich bilde mir Kuhglocken ein, Schafe stehen auf einer Weide im Regen. Die Klänge ziehen mich in den Moment, verleihen ihm eine ruhige, mächtige Tiefe und spenden Zärtlichkeit.
21.09. Hotel Saraj, Sarajevo. Abschlussrunde
Was habe ich gelernt? Wie will ich es fruchtbar werden lassen in meinem Leben?
Ich habe gespürt, die Kraft zu haben, negative Gedanken/Energien in positive zu verwandeln. Es ist mir deutlich geworden, das wir Menschen die Möglichkeit und die Macht haben, transformativ zu handeln. Ich habe die Tiefe des Jetzt gespürt und die Kraft einer Gruppe, die sich einander öffnet. Ich habe ein bisschen Bosnisch gelernt. Ich habe gelernt, dass Hass und Misstrauen alles zerstören kann, selbst Beziehungen, die vorher funktioniert haben und an denen nie gezweifelt wurde. Ich habe gelernt, dass man selbst solche Taten verzeihen kann, aus Liebe zu sich selbst. Ich habe gespürt, wieviel ein strukturierter Start in den Tag helfen kann. Stille, Schreiben, Bewegung. Das will ich zuhause fortführen.
Das Center for Peacebuilding und Vahidins Arbeit zeigen mir so deutlich, an was es auch in Deutschland fehlt: Austausch, Erfahrung in heterogenen Gruppen und gemeinsame identitätsstiftende Rituale. Ich will mehr singen. Ich will in irgendeiner Weise Menschen verbinden und Frieden fördern. Bonn im Wandel?
Katrin schrieb: „Wir haben Verantwortung für uns und was wir tun! Alles wird beobachtet. Hingucken und Dasein, auch wenn es weh tut.