30. Dharma-Reflexionen vom 29.6.2025, „Geduld mit dem Leben“ und „Geduld ist leer von Geduld“, „Dogen über die Vollkommenheit Segensreicher Handlungen“, Unterkapitel von „Die Vollommenheit der Geduld“ und „Geduld ist leer von Geduld“, S. 103-106.
„Diese Praxis fällt uns besonders schwer bei familiären Konflikten, die so verbreitet und schmerzhaft sind. Der Verrat von denen, auf deren Liebe zu uns wir gezählt hatten, schmerzt am meisten. Die Gleichgültigkeit oder Feindschaft eines Menschen, der uns eigentlich lieben sollte, ist schmerzhafter als dieselben Gefühle, von Bekanntschaften ausgelöst.“
- Bürgerkriege zwischen denen, die sich so nah sind, schmerzen am meisten, wie die zwischen Israelis und Palästinensern, Irischen Protestanten und Katholiken, sunnitischen und shiitischen Muslimen.
- „Die Magie eines Konflikts besteht darin, dass es eine Sichtweise von Verbindung, ja, sogar Liebe im Herzen des größten Schmerzes gibt. Weil wir uns so tief um den Anderen sorgen – auch wenn wir es nicht bemerken – , sind wir fähig, einander zu verletzen. Sobald wir dies wissen, können wir in uns selber nach Verletzung Verletzbarkeit suchen.
- Beides ist dort irgendwo – unter dem Ärger, der Verteidigungsbereitschaft und Aggression. Wenn wir uns das alles fühlen lassen, werden wir nach und nach die Liebe finden – den Ort in uns, der die grundlegenden menschlichen Gefühle birgt, den alle Menschen füreinander hegen.
- Bodhisattvas wertschätzen diese kontraintuitive Sichtweise: Alle Stadien des Konflikts sind berührende Momente, in denen die Tiefe unserer menschlichen Liebe auf die Tiefe unserer Sehnsucht und Entfremdng trifft.“
Geduld mit der Wahrheit über unser menschliches Leben
„-Nach den beiden Punkten „Persönliches Leiden“ und „Zwischenmenschliches Leiden“ geht es jetzt um die Schwierigkeiten von Geduld mit der schmerzhaften Wahrheit über das/unser Leben. Leben ist unbeständig. Zeit vergeht, wir ändern uns andauernd. Manchmal mögen wir dieser Veränderungen, manchmal nicht, aber wir können nichts dagegen tun. Wir werden alle alt, krank und sterben. Wir erleiden Verluste. Wir alle verlieren Jemanden, den wir lieben und alles, für dessen Aufbau wir unser Leben gegeben haben. Wir wissen das, zucken aber oft mit den Schultern und denken: Das stimmt, diese Dinge werden später irgendwann geschehen, eine lange Zeit von jetzt an, wieso sollte ich mich damit befassen? Lass es uns vergessen und das Leben genießen, solange wir es noch können. Außerdem wird es vielleicht gar nicht so schlimm, vielleicht haben wir Glück, und uns wird die schlimmste Sorte Unglück erspart bleiben.“
- Dabei geschieht es doch schon, graduell, mit jedem vorüber ziehenden Moment. In jedem Moment verlieren wir den Moment. Zeit zu erleben, bedeutet Trauer und Verlust.
- Rebbe Nachmann, der große jüdische Weise, sagte einst: „Die Welt ist eine enge Brücke. Hab‘ keine Angst.“ Wir haben aber Angst, und das ist das Problem.
- Alle Religionen lehren einen Weg, diese existentielle Angst zu überwinden. Im Christentum, Judentum und Islam besteht der Glaube an einen liebenden, mitfühlenden, gerechten und barmherzigen Gott. Bei eher auf die Erde bezogenen Religionen gibt es geduldiges Vertrauen in einen Großen Geist, der mit Erde, Himmel, Wasser, Pflanzen und Tieren verbunden ist. Der klassische Buddhismus wertschätzt die leere, offene Natur der Existenz selber, nicht unterschieden von Nichtexistenz, deren essenzielle Natur Liebe und Mitgefühl ist.
- Wie auch immer sich der Ausdruck darstellt, es gibt keine einfache Wahrheit, die zu umarmen wäre. Sie ist nämlich radikal demütig machend und verlangt nach einer völlig anderen Sichtweise. Man braucht tiefe und geduldige Nachsicht, unsere menschliche Verwundbarkeit zu akzeptieren – dass wir sterben, dass wir sowohl der Zeit wie der Welt ausgeliefert sind, dass unsere enge Sicht auf uns selber nicht wirklich stimmt, dass wir uns bis weit jenseits unserer Komfortzone ausdehnen sollen.
Geduld ist leer von Geduld
Geduld existiert eigentlich nicht. Es ist ein Begriff, der Gefühle darüber hervorruft, wie wir leben könnten. Leerheit wertzuschätzen, ist die Frucht der sechsten Vollkommenheit, der Vollkommenheit des Verstehens.
Warum sollen wir uns daran erinnern, dass Geduld leer ist? Damit wir uns bei dieser Praxis nicht aufzehren, sondern entspannen. Es wäre albern, ungeduldig mit unserer Ungeduld zu sein. Ist das nicht genau unser Problem mit religiösen Übungen? Wir nehmen diese so ernst, werden so intensiv dabei, dass wir in einem großen durcheinander enden. Die Leerheit-Unterweisungen wertzuschätzen hilft uns enorm bei diesem Problem.
Dogen über die Vollkommenheit Wohltuender Aktion
Die dritte von Dogens vier Führungsmethoden für Bodhisattvas ist die „Wohltuende (mitfühlende) Aktion“. Sie ruft uns auf, immer Mitfühlende Aktionen für andere zu machen, indem wir die „geschickten Mittel“ anwenden, die gerade zur Hand sind. Derartige Aktionen, so schreibt er, macht man nicht für irgendeine Belohnung, sondern um ihrer selbst willen. Es handelt sich dabei um Handlungen der Einheit: Damit dienen sie immer uns selbst wie den anderen, weil es keinen Unterschied zwischen Selbst und Anderem gibt. In dieser Weise, solltest Du, dem Selbst und dem Anderen gleichermaßen dienen, dem Freund und Feind gleichermaßen und dabei sogar Wohltäterin für Gras, Bäume, Wind und Wasser sein.
Ich möchte diese einfache Lehre – die Selbstverpflichtung, für andere Sorge zu tragen, dabei alle lebenden Wesen einzuschließen und anscheinend auch nicht-lebende – auf die Praxis der Vollkommenheit von Geduld anwenden.
Wenn ich alles Vorhergesagte herunterbreche auf das Wesentliche, bleibt etwas sehr Einfaches übrig: Mach‘ einfach weiter. Lass‘ dich durch nichts, durch keinen Rückschlag, welcher Art auch immer, abschrecken. Es wird immer Rückschläge geben. Diese sind ein notwendiger Teil des Übungsweges. Was immer vor sich geht, sei es unvorteilhaft oder sogar katastrophisch, denk‘ daran: Sei anderen nützlich. Sei ein Segen für andere. Versuche einfach zu helfen, auch wenn es so aussieht, als könntest Du nichts tun. Tatsächlich kannst Du immer etwas tun: Sprich‘ ein Gebet, hege einen freundlichen Gedanken, biete ein freundliches Wort an. Es wird helfen. Frustriert wegen stockendem Verkehr oder einer langen Warteschlange? Sei anderen nützlich. Finanzieller Rückschlag? Diene anderen. Arbeitsverlust, Scheidung, Krankheit, Schmerzen, Unpässlichkeiten, Angst vor dem Alter? Sei ein Wohltäter/eine Wohltäterin für andere.
Die vollständige Vollkommenheit von Geduld kann mit nur einer Übung ausgeführt werden: Diene anderen.
Persönliche Reflexion:
Durch die fast wörtliche Übersetzung, zu der ich mich immer mal wieder genötigt sehe, fühle ich mich immer enger mit dem Buch von Zoketsu Norman Fischer verwoben, es arbeitet in mir. Gelegentlicher Widerstand, Fragen verändern sich, ich lasse leichter los als früher und ernte.
Was ernte ich? Ein nicht kognitives Verstehen von „Leerheit“. Es erleichtert mich inzwischen von allerlei Gefühlen, die sich gewohnheitsmäßig einnisten wollen. Scham, Trauer, Sorge, Angst, Gier sind alle weniger intensiv geworden, Verspannungen lösen sich, die Konstellation verändert sich unter meiner Ruhe.
Gruppen-Reflexion:
Bestimmte Themen lassen sich nur schwer umdeuten, wie zum Beispiel Ärger, „Lass‘ den Sieg den Anderen“, lege Zeugnis ab, unterschiedslos, berücksichtige die Leerheit, segne alles und alle. Wir machen Witze über die Fülle an Dharma-Toren*), die jede und jeder von uns durchschreitet. Damit haben wir sie akzeptiert und erkennen sie.
Wir bringen zum Ausdruck, dass wir uns an der Stille und Regelmäßigkeit der Praxis und all ihren Facetten erfreuen und die Schönheit genießen, mit der alles ineinandergreift.
Gestern, am Sonntag, drei Zeitstunden miteinander gesessen.
Ich verneige mich.
*) Die dritte Zeile der „Vier Großen Gelübde“, die wir täglich rezitieren, lautet: „Dharma gates are endless, I vow to enter them…“
Wir erfahren mit der Zeit, was mit diesen Toren, diesen Dharma-Toren gemeint sein könnte. Einladungen zur Verwandlung?