Es gib einen Weg, um andere zu kritisieren, die Furchtbares tun: Wir versuchen, sie daran zu hindern, ihr gewaltvolles Werk fortzusetzen. Wir sprechen mit ihnen. Wir versuchen, die Geschädigten zu schützen, Streitschlichtung anzubieten, Hilfe anzufordern. Was bei Einzelfall-Arbeit schon schwierig ist, ist bei Familien und Gruppen schwerer. Bei Kollektiven, die einander bekämpfen, erfordert die Einmischung noch mehr Geschick, Erfahrung, Unterstützung. Und das durchdrungen von den buddhistischen Grundsätzen: Tief zu reflektieren, Erwartungen herunter zu schrauben, auf Belohnungen zu verzichten, ja, sogar jeden Gedanken an Erfolg in eigenem Sinne aufzugeben. Und trotzdem zu handeln, begeistert, unverdrossen, nach bestem Vermögen und die ethischen Grundsätze wahrend.
Ein Volk wird angegriffen, eines, mit dem wir schicksalhaft verbunden sind. Bei kriegerischen Angriffen leiden die Soldaten, deren Mütter und Liebsten, und seit die verheerendsten Angriffe aus der Luft erfolgen, trifft die Gewalt die Zivilbevölkerung am meisten. Mütter und Kinder sind zahlenmäßig stark betroffen, vor allem in Ländern, in denen wenig Geburtenkontrolle betrieben wird. Uns schüttelt es vor Entsetzen und Mitgefühl, egal, auf welcher Seite Terror ausgeübt wird.
Warum erinnert mich mein Entsetzen an die Lager des Dritten Reiches, die wir mit der Chiffre “Auschwitz” versehen? Kein Mensch mit einem schlagenden Herzen in der Brust wird über das, was mit den Kindern in Auschwitz geschah, was ihnen angetan wurde, freiwillig sprechen – außer flüsternd, mit einem engen Freund. Es traf vor allem auch Roma- und Sinti-Kinder und ihre Mütter: In Birkenau steht ein stark vergrößertes Foto, auf dem man nackte Frauen, die Mütter, erkennen kann, und deren noch jungen Kinder. Von hier aus würden sie ins Gas geschickt werden. Das Schild war genau dort aufgestellt, wo sie zitternd vor Kälte, Sorge und Demütigung standen und bald losziehen würden. Wir Pilgerinnen wußten, wie weit es von hier bis zur Gaskammer war. Ich konnte mir das alles vorstellen und fürchtete diesen Ort. Einmal hatte ich einen Weinkrampf erlebt. Drei Männer aus der Zenpeacemakergruppe eilten herbei und bildeten einen engen Kreis um mich, in den ich mich weinend fallen lassen konnte.
Nicht wenige Kinder, nicht wenige Mütter, den Sinti und Roma angehörend, sondern auch jüdische Insassen, wurden medizinisch missbraucht. Manche wurden auch sexuell ausgebeutet. Alle erlitten Machtmissbrauch: emotionalen, physischen. Wer überlebte, hatte ein Leben lang mit den schlimmen Folgen zu tun. Worte allein können schon triggern. Das Wort “Krieg” nebst anderen dazugehörigen Worten hatte nicht nur bei meiner Mutter deren schlimme Erinnerungen und Ängste getriggert, bis sie vor drei Jahren starb. Ähnliche Reaktionen wurden und werden bei fast ALLEN Kriegskindern aktiviert. Als ältestes Nachkriegskind von mehrfach traumatisierten Kriegskindern, meinen Eltern, fühlte auch ich mich auf seltsame Weise getriggert. Ich hatte genügend “Gefühlserbschaften” gemacht. Deutsche Nicht-Juden (mit denen kenne ich mich durch die Gruppenarbeit aus), die oft schwer in ihrem Selbstwert gestört waren, waren gefährdet, die Regeln einer “schwarzen Pädagogik” gegenüber ihren Kindern anzuwenden, als Eltern. Lehrer*innen, andere, die mit Kindern arbeiteten/lebten. Sie hatten die Ideologie brutaler Härte der Ärztin und Autorin Johanna Harrer zum Teil selber “genossen”- ähnlich übrigens den Soldaten im Feld, welche mit unsinnigen, meist grausamen Anweisungen malträtiert wurden. Viele wollten in ihrer Rolle alles richtig machen (eine deutsche Un-Tugend, diese Angst, Fehler zu machen), gehorchten den jeweiligen Autoritäten und waren für Ideologien hochgradig empfänglich.
Ich möchte mich dem Thema „Einfühlung“ nähern und stelle – als Beispiel – die Frage: Was glauben Ausländer, also Menschen, deren Eltern und Großeltern nicht in Deutschland aufgewachsen sind, was in deutschen Kinderzimmern geschah? Die meisten von ihnen dürften keine Ahnung haben – genauso, wie ich keine Ahnung davon habe, wie türkische, griechische oder italienische Kinder aufgewachsen sind. Viele weigern sich auch schlichtweg, weil es anstrengend und ernüchternd ist, sich mit den Leiden der Nachkommen in Täter-Familien zu befassen. Und so kann es zu einem Mangel an Einfühlungsvermögen kommen. Wo nehmen wir einen solchen sonst noch wahr? Wie erkennen wir diesen Mangel, diese Weigerung, uns in irgendjemanden einzufühlen, auch in uns selber?
Bei uns zu Hause wurde gemeine Witze über Religion, Geistliche, fromme Menschen gemacht. Einfühlung lernte man dabei nicht. Höhnisch und sarkastisch gab man sich gerne, wenn die Cousins zu Besuch waren, die Onkel und Tanten waren schon gestorben, sie hätten aber mitgemacht. Wer nicht mitlachte und in den Wettbewerb sich steigernder “Witze” und Pointen, meist zu Lasten von irgendjemandem, wurde subtil ausgeschlossen. Die Zungen wurden gelöst von Sekt oder Eierlikör oder… , d.h. ohne mit zu trinken oder auch mit zu rauchen, hatte man schon falsche Karten. Weichere Gefühle wurden nur in der Adventszeit und an den Weihnachtsfeiertagen gelebt. Liege ich ganz falsch, wenn ich zu wissen glaube, auch wieder durch meine Gruppenarbeit, durch Filme und Literatur, wenn dies Verhalten wenn nicht bei allen, aber möglicherweise in den eher kleinbürgerllichen Familien verbreitet war?
Ich habe lange gebraucht, um diese Wunde in mir zu heilen, es tut Kindern nämlich eigentlich weh, wenn so gesprochen wird, sie sind verwundert, verwirrt, orientierungslos. Weil ich versuchte, mich draußen zu halten, wurde ich subtil oder offen ausgestoßen. Die Wunde von Nicht-Zugehörigkeit entstand. Dass wahrscheinlich viele von uns so oder ähnlich betroffen waren, streiten wir wahrscheinlich ab, um uns zu schützen. Auch hier gab es eine tiefe kollektive Wunde, dass in unserem Land, mit so vielen bekannten, beliebten Künstlern und Geistesgrößen unsere erhabenen Sehnsüchte und Gefühle von Nazis so derartig in den Schmutz gezogen, verdreht und mißbraucht worden waren.
Als meine Familienwunde dabei war, sich zu schließen, kam die kollektive Gotteswunde dran. Durch meine Ausbildungen und zahllose genommene und gegebene Selbsterfahrungsgruppen hatte sich der Horizont wieder geöffnet, und ich forschte in eigener Sache, las, schrieb Gedichte und Gebete und traute mich jedes Jahr mehr, mich kindlich fromm zu geben, wie es mir entsprach. Ich meine das durch und durch positiv.
Wieviel Neid mag da mit im Spiel sein, fragte ich mich, frage ich mich, wenn ich fast verlacht wurde, sicherlich aber nicht ernst genommen von manchen Intellektuellen… Wieviel Schmerz mag aktiviert werden, wenn sie ihre empfindsamen Herzen mit einer Mauer versehen haben? Ich frage mich weiter, kann man es ertragen, Menschen in ihre Gotteshäuser streben zu sehen oder aus ihnen herauszuquellen – sieht es doch nach Zugehörigkeit und Schwingungsfähigkeit aus, nach Lebendigkeit und nach … Liebe. Ich denke an die Synagogen. An die Synagoge in Vietz, heute Witnica, in Posen/Polen, direkt neben dem Haus meiner Großeltern.
Mag das einer der Gründe sein, warum die Empfindsamkeit beim Thema „Feuer legen in Synagogen“ vergleichsweise gering ist? Das würde auch erklären, warum sich nicht leichter Bürgerwehren an Synagogen gebildet haben oder bilden an Festtagen, wo diese zu erwarten sind.
Gerade komme ich aus einer Dichterlesung von Uwe Timm, dem inzwischen 85jährigen, fleißigen Schriftsteller, der uns unsentimental und dadurch erschütternd, aus seinem Werk “Am Beispiel meines Bruders”, vorlas. Der Bruder trat mit siebzehn Jahren der Totenkopf-Division bei, verlor beide Beine und starb im Lazarett. Sein Tagebuch habe nur vom Töten und Getötet werden gehandelt, las Timm vor. Er, der kleine Bruder Uwe, habe mit zwölf Jahren zuletzt geweint. Er teilte uns diesen Sachverhalt mit trauriger Stimme vor, wissend um den Verlust. Holger Schwab, Buchhändler des mit Preisen ausgezeichneten Buchladens 46, der zu der Lesung eingeladen hatte, trug dazu das Buch von KlausTheweleit bei, das ich als junge Studentin auch gelesen hatte und kürzlich bei mir vergeblich suchte. Es heisst “Männer-Phantasien”, und ich hätte es nicht mehr so reproduzieren können, was den Kern des Buches ausmacht, wie es der Dichter brilliant zusammenfasste. Aus dem Buch geht hervor, dass der Erziehung von Jungen wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.
Die nächtlichen Anschläge auf die Synagogen – und Läden, nicht zu vergessen! – zielten direkt in das Herz-Zentrum der Juden, unserer Nachbarn. Der Frevel war so schlimm, der Krach berstenden Glases, die grelle Helligkeit lodernden Feuers unter dem Nachthimmel und jedes Fehlen von Feuerwehr und wegen des Schocks wahrscheinlich auch geringer oder erfolgloser Gegenwehr, steckt sogar mir, der Angehörigen der Nachkriegsgeneration in den Knochen. Auch ich kann es eigentlich nicht fassen, wie man solche Untat kaltblütig Menschen antun konnte; dann noch ihr Gotteshaus ausraubend und die Besitztümer der erschrockenen Besitzer und ihrer Kinder, vielleicht noch in Schlafkleidung, grob und wie selbstverständlich an sich reißend. So oder ähnlich stelle ich es mir vor.
Haben sich die Menschen, die rund um eine der Synagogen gewohnt haben (übrigens müsste man auch andere brennen gesehen haben, in der selben Nacht), irgendwie solidarisch mit den Brandschatzern gefühlt?
Wie kann man eigentlich einen so entleerten Begriff wie Reichskristallnacht erfinden, verwenden und beibehalten? Ich kann doch kaum die Erste sein, die ihn empörend nichtssagend, verharmlosend finde, verdrehend findet. Daher verwende ich ihn nicht. Er muss doch wie ein zweiter Schlag ins Gesicht unserer jüdischen Freundinnen und Freunde wirken.
Ich war ja so naiv.
Ich hatte wirklich angenommen, es gäbe ein Tabu, eine unberührbare Zone, rund um die Kirchen, die Synagogen, die Gotteshäuser.
Rund um die Menschen.
Man ging ja so geschickt vor, Schritt für Schritt zerbrachen Nazis die Tabus: Das gewaltsame Eindringen und Lautwerden, Pöbeln, Erniedrigen. Die entstellenden und bloßstellenden Plakate, Fotos. Das systematische Herausekeln aus Häusern, von Arbeitsplätzen, aus Läden und Praxen, verbunden mit Hetzparolen, die für alle tief verstörend wirkten, wie ich heute weiß.
Durch Anne Franks Tagebücher, die mir meine liebe Kusine Marianne geschenkt hatte, kam ich – letztlich sowohl zu meinem Lebensthema wie auch zum Schreiben.
Während der zahlreichen internationalen, interreligiösen Auschwitz-Retreats, an denen ich teilgenommen hatte, konnte ich erfahren, wie kraftvoll Gebete, auch spontan gesprochene, in verschiedenen Sprachen, mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen, wirkten. Wie vor allem offen bekannte Reue, Bedauern, Scham, ehrliches Aussprechen der eigenen Gefühle, Bekennen und Benennen von Schuld wirkten. Menschen, die zu Opfern gemacht wurden, sehnen sich als wichtigen Teil ihres Heilungsprozesses, danach, dass die Täter sich ihren Blicken, ihrer Gegenwart aussetzen, ihnen zuhören, ihre Anteilnahme ehrlich bekunden und, so eigene Beteiligung an der Tat geahnt oder vorausgesetzt werden kann, dieses bekennen und , wenn es nötig und möglich ist, auch benennen. Manchmal habe ich einfach nur erschüttert geweint, ob beim Essen in Krakau oder im Dialog-Center oder in einer der Baracken. das Schlimmste für Menschen ist, wenn sie annehmen müssen, und das war bei vielen Nazis der Fall, wahrscheinlich bei den meisten, dass diese nichts empfunden hätten, auch nach dem Krieg nicht. Man hält Deutsche für kaltherzig und empfindungsunfähig, auch unfähig zu Reue und Einsicht. Ganz zu schweigen von Wiedergutmachung. Diese letzten Gesichtspunkte zusammen mit dem Wunsch, sich vor schmerzenden Erinnerungen an deutsche Befehle zu schützen, was sie hinderte, je nach Deutschland zu reisen, machten mich halb wahnsinnig vor ohnmächtigem Schmerz. Verstehen konnte ich es nämlich auch.
Daher bedeutet es Linderung, Annäherung, Heilung, wenn wir als Deutsche, meinetwegen auch stellvertretend – mir macht das überhaupt nichts aus, ganz im Gegenteil – Schuld auf uns nehmen. Wir experimentieren damit, welche Begriffe, Worte, Sätze, wirklich zu uns passen. Dabei habe ich heraus gefunden, nach langer Beschäftigung mit den Themen rund um Versöhnung, dass ich “Entschuldigung” gut finde. Wie ich auch den Begriff “Schuld” akzeptiere. Manche halten ihn für zu schwer, ich antworte dann, dass die Schwere mit dem Gewicht des Vergehens und der üblicherweise verhängten oder erwarteten Strafe zu tun hat, nicht mit dem Tatbestand an sich. Der Tatbestand an sich ist neutral. Mit Bert Hellinger teile ich die Ansicht, dass die Wahrheit alle befreit, d.h. wenn jemand berechtigterweise seine Schuld anerkennt und die Strafe, die hoffentlich angemessen ist (darüber müsste intensiv diskutiert werden), wird er sich freier fühlen als wenn er oder sie die Schuld verleugnet. Daran können wir die Heilkraft der Wahrheit erkennen.
Neuerdings bin ich überzeugt davon, dass Schuld von den Vorfahren nicht nur delegiert wurde, wie wir Nachkriegskinder leidvoll wissen. Sondern auch, dass wir zur Annahme der Schuld in der Lage und berechtigt sind, und dass auch diese Übernahme frei macht. Mit der Übernahme von „fremder“ Schuld ohne ‚Wenn und Aber‘ wird die Ausgangslage nicht verleugnet: wer die Tat in Wahrheit begangen hat, ist auf dem Tisch. Wir übernehmen sie, mit klarem Bewusstsein, und begeben uns in den eventuell langen Aussöhnungsprozess hinein. Seit ich keine Wut mehr auf meine schuldunfähigen Vorfahren mehr habe, bin ich mit Allem und Allen im Reinen oder gelange dort in kurzer Zeit hin.
Das neueste Beispiel für Verifizierung meines o.g. Experimentes ist Martin Luther. Ich war imstande, während einiger Zeremonien bzw. Council-Runden in Auschwitz “Im Namen der Nazis in Deutschland” für „Dieses und Jenes“ (ich benannte das jeweils) Scham und Reue auszudrücken und um Vergebung zu bitten. Wenn das befriedigend und befriedend wirkt, dann kann ich mich auch, so denke ich, im Namen von Martin Luther entschuldigen. Und meine Freunde können dies sicherlich auch.
Frei nach dem Motto: Wer es kann, soll es tun, statt sich zu beschweren. Wir haben damit gerade erst begonnen, namentlich gestern, an der Gedenkstätte in Bonn-Beuel.
© Monika Winkelmann,
Bonn, den 13.10.2025