Grenzen im Buddhismus – In den fast vierzig Jahren, in denen ich mich mit asiatischen Lehren befasse, habe ich sehr Unterschiedliches über Grenzen gehört und gelesen.

Nicht alles lässt sich mit unserer westlichen Psychologie vereinbaren, und oft dürfen die Grenzen westlicher Psychologie auch überschritten werden. Nur kennen sollten wir sie, unsere Grenzen, und die Grenzen anderer respektieren, vor allem, wenn wir uns in leitenden, lehrenden Positionen befinden.Aus meiner Sicht gibt es ein paar Lebenserfahrungen, die sich in mir zu Wahrheiten verdichtet haben, und diese möchte ich hier teilen und zur Diskussion stellen:
1. Menschen haben Grenzen: Intellektuelle bzw. kognitive, körperliche, psychische bzw. mentale, ethische, spirituelle Grenzen.
2. Sie kennen diese oft nicht und werden auch oft nicht angeleitet, diese zu kennen. Daraus ergeben sich, grob gesagt, zwei Typen von Menschen: Diejenigen, die eher unter ihren Möglichkeiten bleiben und diejenigen, die tendenziell über sich hinauswachsen, im besten Fall, oder ihre Grenzen manchmal mit hoher Risikobereitschaft, vielleicht zu hoher, im schlechtesten Fall, überschreiten.
3. Im Laufe unseres Lebens ändern sich, im besten Fall, unsere Grenzen: Wir öffnen uns für etwas, bei dem wir vorher eine Grenze für uns zogen. Umgekehrt schützen wir uns mehr und früher als vorher, bevor wir überhaupt schmerzhaft an eine Grenze gelangen.
4. Viele von uns sind grenzverletzt.
5. Grenzverletzte Menschen kennen ihre Grenzen nicht (mehr), weil durch einen Übergriff oder mehrere(traumatische Ereignisse), ihr Gespür für ihre Unversehrtheit und ihre eigenen Schutzmechanismen eingeschränkt wurde oder verloren ging.
Ich meine, buddhistische Lehren betonen zu sehr Dehnung, Überschreiten von Grenzen oder sogar das Nicht-Vorhandensein von Grenzen. Unser Geist soll flexibel und geschmeidig werden, soll Taten für möglich halten, die vorher unmöglich erschienen, soll sich von Konditionierungen frei machen und wir sollen die sein, die wir vor der Geburt gewesen sind (“Unsere wahre Natur”). Nicht, dass ich nicht für alle und mehr Sichtweisen etwas übrig hätte! Bei buddhistischem Geistestraining geht es immer darum, festgefahrene, reaktive Muster wahrzunehmen und diese in “innere Geräumigkeit” umzuwandeln.
Zu kurz kommt mir hier das psychologische Wissen, dass manche ohnehin schon dazu neigen, ihre Grenzen stets und immer zu überschreiten, was zum Beispiel dazu führt, dass diese chronisch “mehr beim anderen, als bei sich sind”, mehr versprechen, als sie halten können, sich tendenziell auch gut als Beute von ausbeuterischen Aktivitäten eignen (Machtmißbrauch und andere Arten des Mißbrauchs). Diese Menschen nämlich brauchen Ermutigung, Grenzen zu ziehen, “Nein” zu sagen, sich schonen und schützen zu lernen, menschliche Begrenztheit und damit unsere Endlichkeit anzunehmen.
Wenn wir uns unsere Gesellschaft anschauen, frage ich mich: Wievielen grenzverletzten Menschen begegnen wir hier? Oder geht bei manchen beides Hand in Hand, und einmal bleiben sie weit unter ihren Grenzen, und dann wieder gehen sie weit über diese hinaus? Innezuhalten in der regelmäßigen Sitz- und Gehmeditation, Körpergewahrsein, Achtsamkeit schulend, bei und in allen Aktivitäten, das scheint mit das rechte Gegenmittel, die richtige Medizin zu sein.
Weder lasse ich zu, dass in einer ausbeuterischen Weise über mich bestimmt und mein Vertrauen ausgebeutet wird, und wenn ich in dieser Hinsicht einen Verdacht habe, dann nehme ich den ernst, gehe ihm nach. Noch lasse ich mich immer und stets mitreißen in die Grenzenlosigkeit hinein, wenn mein Bedürfnis nach Schutz, Rückzug, engen Grenzen gerade groß ist.
Ich bestimme selber, wann und wo ich etwas völlig Neues für mich ausprobiere, soweit es mir möglich ist und suche Orte und Menschen auf, die ansprechbar und kritikfähig und konfliktbereit sind. Ich möchte mich beschweren können, umgehend, wenn meine Grenzen überschritten wurden. Wo eine solche Atmosphäre immer wieder neu geschaffen und erhalten wird, trauen die Menschen sich, wirklich offen über sich zu sprechen. Dann sind sie auch offen für das Unverwundbare in allen Wesen, die große Geräumigkeit in uns, das Überpersönliche unseres Schmerzes, die wechselseitige Allverbundenheit.
Zuviel Nachplappern von Lehrsätzen führt zu Abhängigkeit und passt nicht in unsere westliche Gesellschaft. Und zuviel Grenzenlosigkeit führt zum gedankenlosen Überschreiten und öffnet damit mißbräuchlichem Verhalten von Lehrer*innen-Seite Tor und Tür. Letztendlich stehen WIR in der Stunde unseres Todes für unser gelebtes Lebens gerade und niemand anders. Daher: Wir sind die Meister*nnen unserer Praxis.