Ein Mensch, der mir am Herzen liegt, erzählt mir Folgendes: Sie könne wahrscheinlich zu niemandem mehr sagen „Ich liebe Dich“, weil sie dies mit Ehrlichkeit und Inbrunst zu ihrem Partner gesagt habe, der sie letztendlich missbraucht habe.
Den Partner hatte die Freundin von mir als Therapeut kennen- und lieben gelernt, und obwohl beide die Therapie nicht mehr weitergeführt hatten und schließlich zusammengezogen waren, war die Beziehung nie gut geworden.
Meiner Freundin war es phasenweise sehr schlecht gegangen, ja, eigentlich sei von Anfang an ein großer Kummer da gewesen, den keiner verstanden hätte, denn sie habe von jetzt auf gleich einen Therapeuten verloren. Ich ergänze, dass sie mit dem Therapeuten den sicheren Raum verloren hat. Sie musste erfahren, dass der Therapeut eigene Liebesinteressen, so schön diese im Eigentlichen sind, über die Sicherheit der Klientin stellte. Das muss sie von Anfang an irritiert haben, selbst wenn es eine Ehre war, ausgewählt worden zu sein, und eine Freude, dass sich vielleicht eigene Wünsche erfüllt hatten. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte die Klientin einen Raum gebraucht, in dem sie sich aussprechen und experimentieren durfte, mit kindlichen Gefühlen und Bedürfnissen, mit denen eines Teenagers, der zur Sexualität nicht bereit ist, und dem langsamen Erwachen zu körperlicher Intimität und dem Hineinwachsen in wahrhaftes Erwachsensein. Stattdessen musste sie die Last von Begehren erleben und es beantworten, ohne es zu können und irgendwo auch, ohne es zu wollen. Denn der Vertrag eines therapeutischen Verhältnisses sieht derartig komplexe Gefühlsverwicklungen nicht vor, sondern engt diese im Gegenteil ein. Zwei Bündnispartner*innen tun sich zusammen, um die inneren und äußeren Verwicklungen, die zu Krankheiten, Störungen, Leiden geführt haben, in Ruhe zu entwirren und der Seele zum Wachstum zu verhelfen. So eine ritualisierte, heilsame Situation beutet man nicht ungestraft aus.
Das Gleiche trifft auf spirituelle Lehrer*innen auch zu, nur sind die ethischen Herausforderungen und damit Ansprüche an deren Weisheit und Reife noch höher. Warum? Weil die Ratsuchenden einem religiös oder spirituell ausgebildeten Leiter/Priester/Lehrer letzte Fragen stellen, ihm oder ihr Verfehlungen, Obsessionen, Ängste anvertrauen, die sie kaum ihrer eigenen Seele eingestehen. Fragen und Angelegenheiten, die oft bei schwerer Krankheit, in Extremsituationen und auf dem Sterbebett gestellt werden. Dort werden auch Geständnisse gemacht, die Mann oder Frau nicht mit ins Grab nehmen möchte. In letzter Minute wird verziehen, Verzeihung angeboten, um Verzeihung gefleht, Liebe wird bekannt oder verlorene Liebe verzweifelt betrauert. Woher ich das weiß? Weil auch mir Dinge anvertraut wurden, die belastend oder tief berührend waren, Worte der Mutter zur Tochter über eine Vergewaltigung zum Beispiel. Machen wir uns nichts vor: Selbst der Hartgesottenste wird hilfsbedürftig werden, irgendwann, und in dieser Situation Seiten von sich offenbaren, die er oder sie nicht an sich vermutet hätte.
Solche Seiten jedoch können wir auch schon vorher entdecken und offenbaren: in geschützten, in heiligen Räumen der Stille, des Gebets, des vertraulichen Austauschs. Ich finde, der Respekt gebietet, Abhängigkeiten nicht auszunutzen, was nicht heißt, dass Freundschaft mit einem großen „F“ nicht möglich ist. Jedoch sollten Integrität, Offenheit und wechselseitige Ehrlichkeit und damit Verwundbarkeit eine große Rolle spielen.
Noch zu selten oder nie höre ich davon, dass zwei, zum Beispiel Therapeutin und Klient, geistlicher Begleiter und Beistand Suchende zusammen kompetente und neutrale Hilfe gesucht und die sie dann in einen klaren Umgang miteinander oder auch getrennt voneinander gefunden haben.
Es gibt noch viel zu tun auf diesem Gebiet, und wir sollten uns nicht mit weniger zufriedengeben, wenn uns unsere Kinder und der Zustand des Miteinanders in der Welt am Herzen liegen.
Und der Freundin empfahl ich Selbstvergebung, dann könne sie auch wieder und neu sagen: Ich liebe dich.