Und was soll das sein – eine Geburtstagspilgerreise? Nachdem der spontan geplante US-Trip zu einem Zen-Sesshin und einem anschließenden Straßen-Retreat rund um meinen 70. Geburtstag nicht geklappt hatte (zu viele Unwägbarkeiten, auch wegen COVID), suchte ich nach einem Ort mit einer starken Aussage. Und das gibt Palermo her!
Diese Reise war also, wie die drei zuvor, vor allem eine Reise des Dankabstattens. Italien, Sizilien hätten politisch ganz nach rechts schwenken und dort bleiben können. In manchen Regionen wurde das auch versucht. Schiffe, bis an den Rand gefüllt mit Flüchtlingen, meist auch mit Toten dabei, oft mit schwangeren Frauen, Babys, wurden daran gehindert, in einem der Häfen anzulegen. Man muss sich das mal ganz konkret vorstellen, in welchem Zustand diese Menschen – im Schnitt – bei der Seenotrettung schon vorgefunden worden waren und wie es ihnen dann nach Stunden und Nächsten und Tagen auf See gehen mochte. Körperlich. Von der Seele ganz zu schweigen. Man erinnert sich, gelesen zu haben, dass manche Schiffe im Mittelmeer umherkreisten, bis ein Hafen sich doch noch öffnete. Möchte man sich vorstellen, welche Tragödien sich auf den Schiffen abgespielt haben und wie die Ärzt*innen und Anwohner*innen und meist freiwilligen Helfer*innen am Hafen die Menschen in Empfang nahmen? Diese wahren Helden und Heldinnen, für deren Überfahrten ein ganzes Dorf, eine Familie, der einzelne Mensch, der hart gearbeitet und gespart hatte, wurden nicht mit Blumenkränzen und Umarmungen und Freudentränen empfangen! Aber immerhin, mit einer Basisversorgung, mit oder ohne Überdruss, nicht mit Gewehren, offenem Hass, heimtückischen Attentaten. Diese gewaltvollen Vorkommnisse wird es gegeben haben, in den Hotspots, oft aber ausbalanciert durch freiwillige Helfer*innen, Aktivist*innen, Priester, Gemeinden, Graswurzelorganisationen.In den vergangenen Wochen wurde Lampedusa jedes Mal genannt, wenn es zu einer Rettung von Schiffsbrüchigen gekommen war. Es ging um Hunderte! Ich schäme mich dafür, dass solche herausragenden Einsätze, die zudem nach italienischem Seerecht teilweise verboten wurden, nicht in unseren Medien als großartige menschliche Leistung hervorgehoben werden. Wenn man das täte, müsste man ja zugeben, dass diese Menschen rettungswürdig waren, dass es größere direkt praktizierte Menschlichkeit gibt als bei uns, dass es ein Ausdruck geistiger Armut ist, lediglich Geld zu geben anstatt Risiken menschlicher Solidarität einzugehen. Dies ist freilich nur ein winziger Ausschnitt aus den ganz vielen selbstlosen Taten, deren Zeugin ich immer wieder werden durfte.Der Bürgermeister von Palermo, Gianluca Orlando, hat sich höchst beherzt für die erfolgreiche Verhaftung von bedeutenden Mafialeuten eingesetzt, sodass diese Stadt zum einen erfolgreiche flüchtlingsfreundliche Projekte betreibt wie zum anderen eine Stadtpolitik, die die reiche interreligiöse und interkulturelle Vergangenheit Siziliens überzeugend zum Klingen bringt. Und auch der Schandfleck Palermos und Siziliens, der Versuch einer Auslöschung und Negierung blühenden jüdischen Lebens für einen Zeitraum von fünfhundert Jahren, wird langsam und kontinuierlich dem Verschweigen entrissen, durchgearbeitet und der fragenden Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Als Sizilien im 14. Jahrhundert unter spanischer Herrschaft stand und den Gesetzen der Inquisition unterworfen wurde, wurden Juden entweder zur Konvertierung oder Flucht aus dem Land gezwungen, und zwar im Verlauf von wenigen Monaten. Dieses Trauma sollte für fünfhundert Jahre aus dem offiziellen Narrativ verschwinden, und nur durch die Existenz eines gut versteckten Archivs konnten die Geschehnisse rekonstruiert werden. In dem renommierten Baedecker-Reiseführer zu Sizilien und Palermo fand sich gerade eine nichtssagende halbe Seite zu diesem Kapitel, OBWOHL Straßenschilder des jüdischen Viertels, architektonische Fundstücke nicht nur in Palermo und andere mittelalterliche Zeugnisse neben arabischen auch hebräische Namen tragen. Wegen dieser Fülle an Zeugnissen jüdischer Präsenz fällt dem Reisenden erst nach einiger Zeit das Fehlen einer Synagoge mit einem entsprechenden pulsierenden Gemeindeleben, koscheren Geschäften und Restaurants sowie einer Infrastruktur auf, wie man sie von Antwerpen und Krakow zum Beispiel kennt.
An den letzten beiden Tagen der Reise häuften sich die Begegnungen mit Fundstücken, Büchern, Menschen, die auf die für Jahrzehnte einzige Jüdin in Palermo hinwiesen, die unermüdlich aufklärte, auf den Bau bzw. die Bereitstellung einer Synagoge hinwirkte, ihr Wohnzimmer zum Feiern der Festtage zur Verfügung stellte und Kontakte zu namhaften Klerikern, Politikern, Bürgern, Professoren herstellte.
Um den Kreis zu schließen: Palermo hat traditionell ein Herz sowohl für den Islam wie auch für das Judentum, und es ist zu hoffen, dass das moderne Sizilien daran anknüpfen wird und wir aus Mitteleuropa in die Lehre gehen bei den südlichen Urlaubsländern, wie man eine umfassende, inklusive Gastfreundschaft lebt. Danke, Sizilien und deine Einwohner! Danke, Palermo! Was wäre unser deutsches Land schon allein ohne eure Küche, deine Märkte, schöne Stadt?