Wie manche von Euch wissen, erlebe ich den Nahostkrieg – ein merkwürdiger Begriff, dieser „Nahe Osten“, schon in Kindertagen nicht verstanden, nie gefragt – als dritten, mir besonders nahe gehenden Krieg. Dabei bin ich gegen den Vietnamkrieg auf die Straße in Bonn gegangen, habe mich für die Kriege im Irak und in Afghanistan fremdgeschämt, und als die Grünen, meine Partei, den Jugoslawienkrieg befürworteten, war ich empört. Jedoch war ich noch zu jung, hatte nicht genug gelesen, zugehört, Menschen aus anderen Ländern und Kulturen befragt, um das Gefühl zu haben, mitreden zu wollen und zu können. Letzteres ist ein Training wie jedes andere, auch ein Training in Demut, letztendlich. Ich habe kaum mehr Angst, Fehler zu machen und mit meiner Meinung oder Sicht alleine dazustehen. Wenn dies geschieht, ist das immer noch kein schönes Gefühl, aber es ist ertragbar. Ja, es ist mir die Sache wert.

Die Sache, die man Meinungsfreiheit nennt.

In der Überschrift spreche ich von „nahem“ Krieg. Während des Golfkrieges war meine Tochter ein Baby, und ich hatte schreckliche Angst. Ein junge Mutter ist so hilflos und selber abhängig -, daher verstehe ich unmittelbar die Leiden aller Mütter im Krieg, die nur eines im Sinn haben: Ihre Neugeborenen und Heranwachsenden zu schützen und sie altersgemäß zu nähren, auch mit einer positiv stimulierenden Umgebung. Wir wissen oder ahnen doch, was aus Müttern und Kindern wird, die das Gegenteil erfahren, oder? Oder glauben wir, was unsere Eltern, Tanten, Großmütter durchlitten haben, könnten schließlich andere auch?

Mit „nahem“ Krieg meine ich die Kriege, die ich in reiferen Jahren bis heute erlebt habe und erlebe. In denen ich mich engagierte, Freundschaften mit Menschen aus den betroffenen Ländern schloss und eine Meinung hatte. Diese Meinung hat sich bei mehreren Pilgerreisen nach Auschwitz und an andere Orte, an denen Genozide verübt wurden, herausgeschält. Auf eine Kurzformel gebracht, habe ich verstanden, wie unfassbar verwundbar der Mensch ist, wie angewiesen auf bestimmte grundlegende Gegebenheiten, und dass er wiederum unfassbar grausam werden kann, wenn sich Entbehrungen und Terror vor allem in seiner frühen Kindheit oder in der Grausamkeit von Krieg häufen.

Ich spreche vom Sterben und Sterbenlassen auf dem Mittelmeer und an Europas Außengrenzen und in Gefängnissen/Lagern, Wäldern und hochgradig ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen als dem 3. Weltkrieg und mir sehr nahe gehenden Krieg. Der Syrienkrieg, der immer noch fortgeführt wird (!),  ist hierin, ganz subjektiv, inbegriffen. Die ersten Flüchtlinge, die ich in Bonn traf und die mich motivierten, zur ersten Lampedusa-Pilgerreise auszubrechen – es würde noch weitere Pilgerreisen nach Sizilien geben -, waren Syrerinnen und in der Mehrheit junge männliche Syrer. Eine Gruppe von diesen Flüchtlingen hatte, gemeinsam mit dem damaligen Pfarrer der Lukaskirche, im Jahr 2014 einen der berührendsten Gottesdienste/Gemeindeveranstaltungen gestaltet, die ich je erlebt hatte: In ihrer eigenen Sprache, die gut übersetzt wurde, mit eigenen Gebeten…, Beiträgen. In einem Seitenschiff der Kirche saßen etwa zwanzig farbige Menschen. Wie sich hinterher, bei Gesprächen im Gemeindehaus und einem gut ausgewählten, leckeren Büffet, waren sie über Lampedusa geflohen und in verschiedene europäische Länder „geschickt“ worden. Zu diesem besonderen Ereignis waren sie nach Bonn eingeladen worden, um Zeugnis abzulegen unter dem Motto „Kein Mensch ist eine Nummer“. Wie weit sind wir jetzt wieder von einem solchen mitmenschlichen Geist entfernt!

Wir wissen viel zu wenig aus der Entwicklungspsychologie, von den Schädigungen der frühen Kindheit, von den Segnungen von Psychotherapie und der Forschung in diesem Gebiet und von Traumaentstehung, deren Auswirkung und Heilungsmöglichkeiten. Natürlich sind auch die Grenzen von Psychotherapie wichtig sowie der Bereich der frühen Intervention und Prävention. Grundlagenwissen hierzu gehören in die Schulen, in die Medien, ganz allgemein zur Allgemeinbildung. Wir würden uns selber, unsere Kinder, unsere Beziehungsschwierigkeiten und -freuden viel besser verstehen und einordnen, einander helfen können.

Zerstörungswut, mangelndes Mitempfinden, seelische Kälte, übertriebener Ehrgeiz und damit auch übertriebene Machtbedürfnisse, Überlegenheitsfantasien und Angst, nicht satt zu werden und dergleichen mehr, sind eher zu beobachten bei den Besitzenden. Diese erfahren sich nämlich selber, zu unserer Überraschung, ständig als zu kurz gekommen. Das ist ganz einfach meine Lebenserfahrung. Wer selbstkritisch genug ist oder schon einmal einen seelischen oder körperlichen Tiefpunkt im Leben erreicht und sich dann in seelische Behandlung begeben hatte, hat oft eine wesentlich höhere Chance, Mitmensch zu werden und sich als Gleicher unter Gleichen zu erleben. Die anderen, oben zitierten, sind im Grunde stecken geblieben in kindlicher Dauerfrustration, mit einem riesigen Anspruch auf Rechthabenmüssen, unkritischer Bestärkung und geduldeten Trotzanfällen. Das führt dann dazu, wenn diese Menschen in Leitungsfunktionen landen und nicht kritisch hinterfragt werden, dass richtig schlecht erzogene, verwöhnte „Jugendliche“ unser Land regieren, grenzenlose Machtfantasien hegen und umsetzen dürfen, weil so viele „im Lande“ ebenso frustriert und erbarmungslos sind wie die in Führungspositionen. Man weidet sich daran, dass andere in Schach gehalten werden, Grenzen gesetzt bekommen, ja, Terror, das heißt, Panik und unvorstellbare Angst, aushalten müssen. Was man selber nicht erleben will, bürdet man völlig blind für den Eigennutz, anderen auf. Eigentlich sorgt Krieg, denn dahin geht es letztendlich, für ein Maß von uneingestandener Schadenfreude, Spannungsabfuhr, Machterhalt, dunkle, perverse Befriedigung erzeugend. Das ist alles nicht recherchiert, kaum angelesen, sondern spekulativ, wenn man so will, sich subjektiv aus meinen Beobachtungen und Erfahrungen abgeleitet. Nehmen Sie es also einfach als Gedankenanstoß, hoffentlich als diskussionswürdig anerkannt.

Da sind wir also gelandet. Auf der niedrigsten Stufe der sogenannten Zivilisation. Dank der hochentwickelten, hochunterstützten Firmen wie beispielsweise Rheinmetall lassen wir die Waffen sprechen, was wir uns nicht zu sagen trauen, in den Kriegen Nr. 2 und 3: Dem Russland/Ukraine-Krieg, dem Israel/Palästina-Krieg.

Ich spüre, er tut vielen gut, spricht ihnen aus der Seele.  Verteidigung, Recht auf Verteidigung ist das Zauberwort, ja, dürfen wir das denn nicht? Und überhaupt, ohne den „Gerechten Krieg“, der „die Juden“ befreit hat, ist das 20. Jahrhundert nicht zu denken. Ich finde die Befreiung selber befreiend, habe also kein Fragezeichen daran. Das sei für alle gesagt, die Putinversteher:innen und Anti-Semitinnen überall dort wittern, wo eine den gängigen Gerechtigskeitsbegriff überprüft und zu erweitern sucht.

Sind Jemeniten, die die gesamten Jahre über starben und – auch von mir – kaum Aufmerksamkeit erhielten, weniger wert als andere Opfer kriegerischer Aktivitäten? Was ist mit dem Sudan? Engagieren sich US-Waffensysteme nicht andauernd in Regionen dieser Erde, die kein Mitspracherecht haben und wir, zivile Wähler, letztlich auch nicht? Können wir die deutlich unterdrückten Völker als unsere Geschwister ansehen und ihnen unser Mitgefühl zukommen lassen, auch und gerade dann, wenn sie keine starke Lobby haben und verdreckt, verarmt aussehen? Wohin richten wir unsere wache Aufmerksamkeit, unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit?

Die europäische Judenvernichtung ist eine einzige riesengroße Schweinerei und nicht wieder gut zu machende Schandtat. Ich finde, dass Vertreter:Innen von  Institutionen wie zum Beispiel beider Kirchen, intellektuelle Buchautoren und -autorinnen,  Theologinnen und Theologen, Machthaber:innen, sich noch längst nicht mit genügender „Verve“ umfassend informiert und öffentlich wiederholt bekannt haben: Killer, Ausbeuter, Folterknechte gewesen zu sein oder solchen Familien entsprungen zu sein. Zum institutionellen Mord. Nehmen wir Richter:innen dazu und Ärzte:innen. Müssen nicht beide Berufsgruppen einen Eid leisten, das menschenmöglich Gerechte und ethisch Einwandfreie unter allen Umständen zu tun??????? Ich fordere die Standesvertreter:innen auf, sich zu den übelsten Perversionen ihrer Zunft zu bekennen und nicht nur, aber vor allem: Jüdinnen und Juden zu fragen, was sie sich als Sühne, als Ausgleich wünschen. Ich spüre, wie ich mich beim Schreiben immer noch fremd schäme. Es war in Deutschland Usus, dass sich die Gequälten, also auch die eigenen Kinder, die Juden und vielen anderen Verachteten, schämen mussten –  NICHT die Täter:innen, die dafür Verantwortung trugen. Diese moralische Verwirrung, so will es mir scheinen, wird gerade wieder bedient.

Das Bedürfnis nach einem immer vorhandenen Sündenbock, jemand, auf den man alle Schuld eines Systems mangels Selbstkritik (siehe oben), mangels eines gesunden Selbstbewusstseins, mangels eines warmherzigen, gastfreundlichen, fehlerfreundlichen Denkens, schieben konnte, hatten jüdische Frauen und Männer, leider auch deren Kinder und Babys, zu erfüllen. Ihr Gott, ihre Propheten schienen weiser, entbehrungswilliger zu sein als der christliche Gott. Darauf konnte man neidisch sein, auf ein im Großen und Ganzen flexibleres und lebendigeres, weiseres „Volk“, bei allen menschlichen Schattenseiten. Doch ist Neid ein sehr unangenehm zu ertragendes Gefühl, direkt nach Angst, und so geschieht es oft, dass bei passender Gelegenheit das neiderzeugende Objekt lustvoll demoliert werden muss. „Muss“ im Sinne von innerer Triebhaftigkeit, Unreife. Solche Unreife machen sich Machthaber skrupellos zu nutze, wie heute auch wieder, in dem sie das Volk falsch informieren und regelrecht, vor allem auch gegeneinander, aufhetzen. Eine Art Gruppendynamik der Not, entsprungen aus den bedrohlichen Jahren der Pandemie, der Klimakrise.

Der dritte „nahe“ Krieg ist eine weitere Katastrophe, ich nehme ihn sehr persönlich. Ich halte weiterhin aufrecht, dass Kriege Samen für noch Schlimmeres sind, und nicht, wie viele sich und anderen einreden, Samen für Besseres. Schöneres. Liebevolleres.

Wenn ich in Israel leben würde, oder in Palästina, weiß ich überhaupt nicht, was aus mir geworden wäre. Vielleicht auch eine Großmutter mit einer Waffe über der Schulter. Eine schon getötete Friedensaktivistin. Eine Untergrundkämpferin, weil man ja anscheinend nicht antikapitalistisch und pazifistisch in Israel sein kann. Ich werde aber gerade immer stärker in diese Richtung gedrängt, angeekelt von der Mitleidlosigkeit, ja, Gottlosigkeit der oft, nicht immer, materiell scheinbar Abgesicherten.

Mich auf Jesus berufend, dachte ich stets, „Was ich nicht will, das man mir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Ganz ehrlich, ich versuche, danach zu leben. Natürlich täglich scheiternd. Vielleicht ist dieser Text schon anmaßend, selbstgerecht, polarisierend und trägt damit den Keim für Gewalt in sich. Ich hoffe aufrichtig, dass es nicht so ist. Was ich mir wünsche, sind große und kleine Kreise von diskutierenden Menschen, gut moderiert, in der Mitte eine Kerze.

Die Moderatorin weist auf ein paar Spielregeln hin und fragt in die Runde, ob jede:r mit ihnen einverstanden ist. Dann wartet sie eine Weile. Lange genug. Dann zündet er die Kerze an. Wärme und Stille breiten sich aus.

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