Ich mag es nicht, wenn man mir Sand in die Augen streut. Erst einmal tut das weh und stört beim Sehen, aber zweitens frage ich mich, wie kommt dieses Wesen dazu, mir oder uns oder gar sich selber so etwas anzutun? Weil man dann ein gutes Gewissen aufrecht erhalten kann?
Ich habe gerade angefangen, das Buch „Die Frauen von Birkenau“ von Seweryna Szmaglewska zu lesen. Der erste Satz des Vorwortes lautet: In den Krematorien von Auschwitz und Birkenau wurden bis zum 18. Januar 1945 etwa fünf Millionen Menschen verbrannt.“ Dann wurde aufgezählt, welche Nationalitäten vertreten waren und gesagt, dass viele Kinder dabei waren. „Zigeuner, mit denen man ähnlich wie mit Juden umging, indem man ihr ganzes Lager, in dem Männer, Frauen und Kinder gelebt hatten, ins Gas schickte.“
Ich weiß nicht, wann offiziell von Völkermord gesprochen wurde, bei Juden und bei Zigeunern. Wohlgemerkt, es gibt Menschen, die diesen Tatbestand heute noch leugnen, anzweifeln, oder ihn bei Sinti und Roma nicht gelten lassen. Was sich unter anderem daran zeigt, dass Erinnerungsstätten, Denkmäler so stark umstritten sind bei den letzteren, und wahrscheinlich hat diese genaue „Diagnose“ ‚Genozid‘ oder ‚Völkermord’ auch eine juristische und finanzielle Auswirkung zum Thema: Sanktionen und Entschädigung.
Für den einigermaßen gesunden Menschenverstand assoziiert man den Begriff ‚Genozid’ mit genau dem, was Szmaglewska schreibt: “Ganze Lager, Frauen, Kinder wurden ins Gas geschickt.“ Das lasse man sich auf der Zunge zergehen. Ich möchte mein Haupt bedecken.
Ich schlage vor, dass wir uns die Bilder und journalistischen Berichte wie auch Augenzeugenberichte, die ja nicht alle „fake news“ sein können, aus Yemen oder Syrien oder von sonstwo, vergegenwärtigen und und fragen, wo bei der Bombardierung des Gaza-Streifens (auch ein hässliches, herabsetzendes Wort, ein Streifen wie ein Wundverband) Ähnlichkeiten zu erkennen sind.
Und dann können ja diejenigen, die sich empört, vehement und intelligent verbitten, dass von einem ‚Genozid’ gesprochen wird, den Beweis antreten: Bitte zählt uns alles auf, aber bitte ohne die üblichen Märchengeschichten, welche mitmenschlichen Maßnahmen getroffen wurden und getroffen werden, die genau einen Unterschied machen.
Da es in Birkenau keine Opposition gab, die sich dafür interessiert hätte, warum eigentlich Frauen, Kinder, Schwangere, Stillende, Alte und Kranke nicht geschont wurden, fand nichts in dieser Richtung statt.
Aber jetzt: Treten Sie bitte den Beweis an, dass es Ihnen NICHT um die Einschüchterung, Erniedrigung, Schwächung, Auszehrung, Verleumdung und Auslöschung all derer, die in Gaza leben, geht. Bitte geben Sie sich Mühe und speisen uns nicht ab mit Worthülsen. Aber vor allem Eins: Hören Sie auf, uns Sand in die Augen zu streuen. Das wirkt nicht mehr.
Im nächsten Text werde ich über „Kapitulation“ sprechen.