Ich gehe selten ins Kino. Ich kann mir oft die Zeit nicht nehmen, manchmal habe ich auch das Geld nicht locker, aber eigentlich liegt es daran, dass Kino-Filme, oder Filme überhaupt, mich auf eine Art berühren, von der ich lange zehren kann. Durch die Bilderfülle strengen sie mich im Grunde genommen an, anders als Bücher. Das ist EIN Grund, warum ich lieber lese. Vor die Wahl gestellt, ob ich das Buch lese oder die Buchverfilmung anschaue, ist ja jetzt klar, was ich wähle. Oft ist es auch die bessere Wahl, obwohl ich Ausnahmen kennen gelernt habe.
Nun war ich gestern seit Langem mal wieder in der wunderbaren Brotfabrik, dem angesagten Kulturzentrum in Bonn Beuel, dem Stadtteil, in dem ich Jahrzehnte lebte und dem ich immer noch hinterher trauere. Der Film also: In Facebook heiß empfohlen von engen und nicht so engen Facebook-Freunden aus Übersee. Anfangs ärgerte ich mich darüber und urteilte, innerlich: Ja, geht nur zu den Movies, statt auf die Straße zu gehen! Ich war – und bin es noch – aufgewühlt von dem Schicksal meiner palästinensischen Geschwister und verstehe die Welt nicht mehr. Wieso ist niemand der Machthaber Europas, meinetwegen auch die aus anderen Ländern, nach Palästina gereist, als man es noch konnte – man kann es wahrscheinlich immer noch, nur dürfte es sehr ungemütlich sein -, um sich selbst ein Bild zu machen und Solidarität auszudrücken? Weiß doch jeder Promi, was sein Erscheinen bewirken, sein oder ihr Fernbleiben auslösen kann. Wir haben eben alle eine Verantwortung, ob es uns bewusst ist oder nicht, ob wir sie wahrnehmen oder nicht.
Oder/und nach Israel hätte man gereist sein können, um ein Machtwort mit Netanyahu oder einem ranghohen Menschen in der Hierarchie zu sprechen. Und noch eins und noch eins. Oder einfach mit Menschen zu sprechen, an einen Checkpoint zu fahren. Es kann doch einfach nicht sein, was ist: Ein ganzes Volk, im Grunde genommen seit einem Jahrhundert, missachtet, zusammengequetscht, auseinandergerissen, enteignet, diffamiert, geschoben und belogen.
Ja, gelogen wurde und wird wie gedruckt, ohne Unterlass, bis heute, und es wird weitergehen, das Lügen und Beschweigen, wie bei jedem Genozid. Und ich habe einige davon bezeugt in den vergangenen fünfzehn Jahren.
Freunde! So kann es, so darf es nicht weitergehen, wir spielen nicht nur mit dem Leben dieser bedauernswerten, wundervollen Menschen und ihren Nachfahren (es ist albern zu glauben, alle töten zu können, das gelang den Europäern mit den Juden auch nicht, mit den Sinti und Roma nicht, mit den Armeniern nicht und den Namibiern, und auch nicht mit den Tausenden und Abertausenden aus Afrika, die man Poseidon geopfert hat. Was machen wir da, was lassen wir geschehen? Und die ewig Gestrigen in Deutschland, die zu bequem sind, sich umfassend zu informieren, informieren zu lassen, ihr Englisch aufzupolieren und mal einen moralisch beherzten Schritt zu machen. Diese meinen stumpfsinnig stur, selbstgefällig, Erinnerungskultur und Wiedergutmachung bedeute jetzt, willenlos und unkritisch jedem Begehren eines jüdischen Freundes, eines Vereins in Deutschland, einer Synagogen-Gemeinde, die die Siedlerpolitik gutheißt, um jeden Preis zu folgen. Waffen zu liefern gegen die böse Hamas, die anscheinend schon in den Kinderseelen von Palästinensern sitzt. Von Journalisten, von Gelehrten, von arabischen Juden, von Medizinern und Pflegepersonal, die ihre heiligen Schwüre wirklich ernst nehmen und ihr Leben einsetzen. In diesen allen wohnt die Hamas, wobei bei solchen Schlagworten niemand eigentlich sagen kann, wer oder was das ist, auf jeden Fall ist es vom Teufel und muss exorziert werden.
Den will man nun mit dem Beelzebub ausrotten, ich dachte, man wüsste heutzutage, dass das nicht funktioniert. “Hass kann mich nicht mit Hass besiegen”: Buddha. Wobei dahingestellt ist, wer eigentlich wen hasst und welche Begehrlichkeiten hinter Worthülsen stehen. Einer will nun Gaza kaufen, aber um es überhaupt kaufen zu können, um es in Erwägung zu ziehen, muss es möglichst frei sein von Wesen, die man ganz offensichtlich verabscheut. Schämt Euch alle, vor allem Ihr Schlauen, weil Ihr nämlich genau wisst, dass die Weißen mit den Waffen und der Kohle im Portemonnaie auf Kosten der Armen ihres Landes, besonders auch den sogenannten Illegalen (in Frankreich nennt man sie wenigstens freundlich “sans papiers”) im eigenen Land und denen in anderen Ländern, die zu weit entfernt sind, um das Elend bezeugen zu müssen. So ist das Leben eben, sagen sie.
Nein, so ist es eben nicht! Der Film zeigt, was zum Beispiel getan werden kann, um Flagge zu zeigen. Die Kernerzählung im Film “No Other Land”, besteht darin, dass der Jude Yuval aus Jerusalem fast täglich in ein kleines Dorf in Palästina fährt – ich habe dessen Namen vergessen -, um seinen Freund und die Freunde und Verwandten des Freundes namens Basel zu treffen. Beide haben Begabungen, die sie leben: Basel dokumentiert die Veränderungen, die seinem Dorf aufgezwungen werden, indem er Videos mit dem Handy aufnimmt. Er ist dabei so geschickt, dass man es gar nicht so richtig wahrnimmt. Mit der Zeit hat er fast Dreitausend Follower gewonnen. Yuval hingegen schreibt und versucht, für seine Texte Interessenten zu finden. Diese Freundschaft ist glaubhaft, zart, berührend. Andere Menschen kommen in Großaufnahmen vor: Die Mutter von Haran, der der erste im Dorf war, auf den von israelischen Soldaten geschossen wurde. Von da an war er von den Schultern hinab gelähmt. Eine Trauerszene, die diese starke, sanfte Frau mit dem wettergebräunten Gesicht zeigt, wird man nicht mehr vergessen können: Nachdem sie so liebevoll, wie es ihm möglich war, von einem Kameramann im Team von Robert de Niro befragt worden war, brach sie ganz langsam in Tränen aus. Sie hatte ihm anvertraut, dass sie den Anblick ihres leidenden Sohnes kaum erträgt und ihm lieber ihr eigenes Leben geben würde. Sie hoffe ferner, dass Gott ihn bald zu sich nähme. Wir erfahren am Ende des Films, dass dieser bis 2023 gegangen und dass Harun gestorben sei.
Die zunehmend brutale Art und Weise, mit der die frisch und wiederholt gebauten Häuser mutwillig und vor den Augen der Bewohnerinnen und Bewohner zerstört wurden -, man wird diesen Anblick nie mehr vergessen können. “Ich filme Euch”, schrie es öfter von einer kleinen Anhöhe, einem Dachfirst herunter, “ich nehme alles auf!” Ich lernte, dass es gut ist, die Kinder alles mitbekommen zu lassen. Sie haben nicht exzessiv geweint, so wenig wie die Erwachsenen, während es geschah.
Wenn sie jedoch, die hoch gerüsteten Besatzer, ankamen, mit welchem zerstörerischen Gerät auch immer, wurden sie von allen angeschrien. “Was machst Du da? Warum nimmst Du mir das weg? Guck Dir meinen Sohn an!” Ich habe davon gelernt. Schreien, um sich zu wehren, ist gut! Bei uns im Land sind alle eher verstummt und verstockt, und ich bringe ihnen bei, im Stehen, in Rollenspielen zu schreien, wenn es sein muss, das genau zu sagen, was Sache ist, zu agieren. Manche sind so stumm geworden, dass sie nur noch schreiben können. Gut ist, wenn uns das ganze Spektrum stimmlicher Ausdruckskraft zur Verfügung steht.
Ich wünschte, ich könnte etwas Aufbauendes am Ende meines Textes zum Film schreiben und stehen lassen. Der Film endet 2023, steht im Nachspann. Also müssen wir nach dem Ende des Films weiter schreiben, weiter bezeugen. Wann begann es, dass ich mich öffnete und wirklich wissen wollte, was auf der anderen Seite der Checkpoints zu sehen, zu hören, zu verarbeiten war, ist? Ein paar Tage und Nächte lang wühlte ich mich durch seelische Tabus (Du musst alles glauben, was Juden Dir erzählen. Du musst alles glauben, wofür Dein Staat vehement eintritt. Wenn die sagen, der Antisemitismus nähme zu, wenn wir nicht an die Schreckensherrschaft der Hamas glaubten und unsere Empathie dem palästinensischen Volk schickten – konnte das eine Manipulation sein, um mit reiner Weste da zu stehen und zu tun, als seien Recht, Ordnung und Anstand auf ihrer Seite?
Am besten geht das Brückenbauen über Freundschaften. Kann man beschließen, Freundschaft entstehen zu lassen? Unbedingt ja. Thich Nhat Hanh nannte es “verfügbar sein”, “sich zur Verfügung stellen”. Offen sein. Mitmensch, Mitwesen sein.
Die Palästinenser*innen wurden durch den Häuserabriss gezwungen, wieder in die Höhlen zu ziehen, die uns im Film gezeigt wurden. Wie schnell sie sich dort einrichten konnten! Einfachheit, Schönheit, Entspanntheit strahlten aus. Scheinbar? Wie uns auch gezeigt wurde, dass ein funktionierender Brunnen mit Zement zugeschüttet wurde. Mir blieb die Luft weg. Eine Wasserleitung, armdick, wurde mutwillig durchgeschnitten. Ohne dass die Eigentümer sich etwas zuschulden kommen ließen. Diese brauchten nicht viel, nur, in Ruhe gelassen werden. Ihre Sprache sprechen, anbauen und essen, was ihnen wohl tat, Jobs annehmen können. Basel hatte übrigens erfolgreich ein Jura-Studium abgeschlossen. Als Yuval ungläubig fragte, aber warum arbeitest Du dann hier? entstand eine lange Pause. Ich hatte als Zuschauerin Angst vor Streit. Yuval: Für uns bleibt nicht anderes, als auf dem Bau zu arbeiten. Das können wir. Wir dürfen doch nicht raus aus diesem Land. Und er zog an der Wasserpfeife.
Wieso sollten sie aus ihrem Land, das sie kennen und das sie nährt wie ihre Mutter, ausziehen wollen?