Chronos, Kairos, Äon

Wenn wir die konfliktreichen Situationen in der derzeitigen Welt betrachten, könnte man meinen, Chronos und Kairos, die fast gegensätzliche Aufgaben haben, lägen miteinander im Streit. Äon dagegen wäre ausgewandert. Am liebsten würde Chronos, die griechische Personifikation der Zeit, quantitativ und linear begabt, alle Angelegenheiten übernehmen. In Kriegszeiten bzw. den Krieg vorbereitenden Zeiten, ist das immer so. Hier wird Kontrolle gesucht, und Macht über andere wird groß geschrieben. Kairos hingegen hat einen qualitativen, dauerhaften Charakter und ist sensibel für einen geeigneten oder günstigen Zeitpunkt für eine Handlung. Äon wäre mir bis vor Kurzem in diesem Zusammenhang nicht in den Sinn gekommen. Aber vielleicht gelingt es mir aufzuzeigen, wie sehr wir ihn brauchen, als ausgleichende Instanz. Äon bezieht sich einerseits auf das individuelle Leben, die Lebenszeit, andererseits aber auch auf eine sehr lange, unbegrenzte Zeit, ein Zeitalter oder gar die Ewigkeit. Wurde diese Personifikation vielleicht auch als  „göttliche Zeit“ empfunden? Ich spüre hier etwas Transzendentes, das sowohl uns selber wie Leben und Tod übersteigt.
Chronos, die lineare, strukturierende Seite/Gehirnhälfte in uns, die sog. “männliche”, hilft uns beim Planen. Wieviele Pläne musste ich in den Jahren der eigenen Fortbildungen und dem Wachsen meiner Kurse, Seminare, Weiterbildungen, Retreats machen? Wieviele Konzepte schreiben, wieviele Einladungen, Vorschauen, Auswertungen, Nachbereitungen? Dabei meine Tochter und deren Bedürfnisse nach Möglichkeit im Blick und die meines damaligen Ehemannes. Ich tat das zusammen mit Kairos – je älter ich wurde, desto mehr Kairos -, denn die Pläne – jedenfalls die ersten Entwürfe – fielen aufgrund meiner langjährigen Erfahrung fast wie von selber auf das Papier oder den Bildschirm. Dennoch: Danke an alle “drei Zeitmaße: Chronos, Kairos, Äon”! Ich glaube fest daran, dass nicht eines von diesen zu einem integrierten Leben fehlen darf.
Es braucht große Demut und viel Geduld. Zuviel Chronos ist zu viel Messen und Kontrollieren wollen, ist zu viel Angst und Machtbedürfnis. Das erleben wir gerade in der Politik. Zuviel Chronos geht immer zu Lasten der Lebendigkeit, und damit der Frauen, Mütter, Kinder. Kriege werden wahrscheinlicher, wegen der Machtgelüste. Das schwingende Geflecht des Lebens beängstigt uns. Andere – Sie auch? – möchten vielleicht morgen tanzen, übermorgen sich neu ins Leben verlieben, ein Studium beginnen, alles verkaufen und eine Weltreise machen, das Klavierspielen wieder beleben, der Mutter Erde dienen? Und was sagt der Aktienmarkt dazu? Ihr Chef? Die letzten beiden Fragen stellt Chronos. Gut, dass wir „ihn“ haben. Äon kümmert sich um das Gemeinwohl auf lange Sicht und schätzt es nicht besonders, wenn der Tod ausgeklammert wird. Er schaut sich liebend gerne auf Friedhöfen um und liest Inschriften, genießt die Stille.
Kinder und alle, die sich um die Alleingelassenen, Kranken, Alten und Verwirrten kümmern, brauchen Kairos-Begabte. Chronisten spielen – im Sinne von ‘kreativ sein’ – seltener und überlassen am besten nichts dem Zufall. „Kairoisten“ erklären uns, dass das Leben selber, das sich zum Beispiel in den Meeren, Wolken und auf den Äckern unserer Welt manifestiert, was schließlich alles zu unserem Frühstück, Mittag- und Abendessen entscheidend beiträgt, nicht nach Uhr und Maßband funktioniert.
Versuchen Sie nur weiter, Stechuhren in Gebärkliniken und Roboter in Altenheimen einzuführen: Die Freude, der Genuss am Zwischenmenschlichen, die Feiern und alles Wohlleben speisen sich aus anderen Quellen als aus dem „google-calendar“.
Nun kommt Äon endlich ins Spiel. Äon schlichtet den Streit, relativiert, lässt uns eine andere Perspektive einnehmen, die ganz große nämlich, aus der die ganz große Demut entspringt. An dieser fehlt es nämlich vor allem.
Die ganz große Perspektive wird heute allzu leicht dem Bankkonto der Zukunft und der Vormachtstellung im Gewebe der Erde geopfert. Die anderen aber, die Gütigen, und ich möchte sagen: Sie gütigen Leserinnen und Leser! – Wir alle sollten die uns überschreitende Perspektive unserer Enkel und Urenkelinnen einnehmen. Wenn Sie keine Kinder haben, dann widmen Sie sich Nichten und Neffen in Ihrer Familie oder den Kindern im Kindergarten um Ihre Ecke.
Kluge Menschen versuchten immer, alle drei Perspektiven in Einklang zu bringen, wegen ihrer Mütter, ihrer Frauen, ihrer Liebesbeziehung, ihrer alten oder schon gestorbenen Eltern wegen, ihrer Freundeskreise, ihres Lebenswerkes, ihrer Kinder.
Letztere werden, wie schon in den Pandemie-Jahren, mit ihren Bedürfnissen zur Seite geschoben, und wenn die Kriegsphantasien und Vorbereitungen wahr werden, dann werden wieder schlimmere Dinge  geschehen. Wir werden mit einem bewusst begangenen Völkermord konfrontiert, wobei das ungleiche Machtverhältnis eine extrem wichtige Rolle spielt. Wie in jeder gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Ungleichen. Die Generationen danach werden von den seelischen und körperlichen Schmerzen aller Seiten gezeichnet sein.
Roboter und sog. „Künstliche, geraubte Intelligenz“ entstammen zum größten Teil der Chronos-Welt: kalt, seelenlos, messbar, ersetzbar. Liebe aber ist ein Übergewicht an Kairos: unvorhersehbar, dynamisch, vibrierend, warm. Mit allen Nebenwirkungen.
Bitte, denken Sie daran. Die Kunst des Lebens kann gelingen, solange jeder Erwachsene diese drei: Chronos, Kairos und Äon in sich und in der Gemeinschaft in einem fließenden Gleichgewicht hält. Das bedeutet, an dem Fundament der Persönlichkeit und der Gesellschaft zugleich zu arbeiten.
[8. August 2025]