Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Interessierte!
Heute entschied ich mich, diesen Text als Fortsetzungsgeschichte zu sehen und zu veröffentlichen. Wer weiß, wie lange sie noch dauert…ich bin selber gespannt. – Wie ich das praktisch anstellen werde? Ich werde darauf hinweisen, welche Einträge neu sind, was man aber unschwer am Datum erkennen kann. Wir werden sehen.
Mir macht es zunehmend Freude, das zu schreiben, was sich gerade öffnen möchte…
Vielleicht Dir und Ihnen auch?
Wie ich das mit der Übersetzung ins Englische mache, weiß ich noch nicht. Man kann sie jedenfalls nicht einfach so stehen lassen, auch wenn vieles richtig gut übersetzt wird. Manches ist eben Dein ureigenster Stil und wurde so offenbar noch nie gedacht oder gesagt – da habe ich schon die seltsamsten Übersetzungs-Angebote gesehen.
Herzlichst,
Eure Monika
20.1.2025
Ich führe meine Verzweiflung spazieren. Immerhin, nicht sie hat mich an der Leine…, denke ich. Also erstens habe ich wieder eine schrecklich anstrengende Nacht hinter mir: Nicht schlafen können, obwohl ich weder späten Espresso noch späten grünen Tee getrunken habe…. Die Schmerzen in den Knochen rund um die linke Schulter ließen mich nicht schlafen, und die psycho-politischen Schmerzen über den Anblick von T und seine Antrittsrede über das Goldene Zeitalter Amerikas taten das ihre dazu.
Dieses Zeitalter wird golden sein, wie das Kalb golden war, die Badezimmer-Armaturen des Bischofs von Limburg vergoldet waren, die Welt hinter Zäunen aus Stahl, Eisen und Nukleardrohungen einem vergoldet vorkommen muss. Der Blick in die traurigen, misstrauischen, gedemütigten Gesichter mit herrlichen meist braunen Augen muss verhindert werden, man fürchtet so sehr den Hass, die Rache der von unseren Tischen Verjagten, die Heuchelei derer, die auf die Bezahlung der Peiniger angewiesen sind. Am besten, sie wären verschwunden. Tot. Vergessen. Der Wunsch danach: schlechtes Gewissen. Der Kater aller Spiele nach den hohen Verlusten, der ständigen Angst im Nacken, den höher gewordenen Dosen teuerster Drogencocktails. Man weiss genau, was die anderen denken, sie haben einen längst entlarvt, und deshalb mussten sie eingekauft werden. Gekaufte Loyalität schmeckt schal, aber schal hatte eigentlich schon das ganze Leben geschmeckt.
Die Verfasserin dieser Zeilen stammt aus einer Familie voller Suchtkranker. Hitler und dessen Spirit hatten sich diese herangezogen, er war ja selber auch süchtig, der kleine Mann. Innerlich hohl, schepperten seine Worte umso greller in der inneren Leere der Zuhörer*innen aus Hunger, Durst, Erniedrigung und Verzweiflung. Denen zu dienen, die sich selber bedienen ließen, war die weitaus interessantere Perspektive, selbst, wenn man das Heucheln und Lügen, die Sprache von Hohn, Häme und Herabwürdigung erst noch lernen musste. Einmal probiert, fiel es erstaunlich leicht, den nächsten Naivling direkt einzuschüchtern und ihn vor unmögliche Perspektiven zu stellen. Der Hosenscheißer in einem selber wurde auf diese Weise selbstsicher, so umrahmt von Leuten, die bei den ersten Dummheiten schon in rasende Begeisterung gerieten, so dass man, ohne zu zögern, den abgelegensten Traum beschwor, das Jade-farbene Zeitalter, die beherzten Maßnahmen dazu unverzüglich einläutend, die die wahren Potenzmeier und feurigen Liebhaber mal gleich ihrer Wurzeln beraubte und sie Dreck fressen ließ.
28.1.2025
Das alles wurde sichtbar und spürbar nach meiner Rückkehr aus Mexico, aus den Tropen, aus einem Land, das ich mir nie richtig hätte vorstellen können, allein aus Büchern, Erzählungen, Filmen schöpfend. Es wäre immer etwas Unwirkliches geblieben. Obwohl ich nur zehn Tage da war – zweieinhalbTage davon in Chacalá vor dem Zen-Sesshin*) und dann sieben Tage am anderen Ende der Bucht, also auch in Chacalá, aber im Ressort ‘Mar de Jade’, habe ich, besonders durch die Taxifahrten über Land, einen lebendigen Geschmack bekommen können. [zur Klinik in Las Varas und wieder zurück und das zweimal sowie von Vallejo nach Chacalá und zurück zum Flughafen] Von strahlender Schönheit, Fülle und Unbarmherzigkeit der äquatorianischen Elemente, die die Wesen geformt haben. Obwohl der Begriff „Unbarmherzigkeit“ deplaciert ist. Es ist ja gerade das Sein selber, das Mysterium, wenn man will, welches Größe, Tiefe, Unergründlichkeit und Nicht-Verstehen komplett zur Verfügung stellte, ja, waren wir denn nicht Teil davon?
Gehören nicht die fehlende Demut, ins Plakative verzerrt durch Größenwahn und Ignoranz aller Grenzen, aller Scham und Verbannung der Zartheit auch zu diesem Gewebe des Lebens, dass es uns nur so schaudert, uns, die wir früher vom Teufel sprachen? Man konnte, fehlgeleitet aus vielerlei Gründen, definitiv den schmalen Pfad der Tugend verlassen, um in großer Geste ein Bankett der ehrlichen Einverleibung zu feiern, unter kaltem Neonlicht, das Leben uns endgültig dienstbar gemacht, der eigene Leib uns entfremdet.
Die Tropen zeigten mir etwas Anderes, nicht zuletzt durch den Unfall, den die Pazifikwelle an mir vollbrachte: Ich war in die Knie gezwungen worden, Ohnmacht und Schicksal zu mir nehmend, dankbar, bescheiden, staunend. Das ist keine Gewalt, sondern Macht. Sie will niemanden vernichten und niemanden verzaubern. Sie ist einfach nur. Urmütterlich. Ich denke an den Gedichtband “Prendre La Mer”. Man lässt tunlichst Körper und Geist am Strand, bevor man seinen Leib zu Wasser lässt. Sterben beginnt unverzüglich. Wie im Sesshin, wenn mich nur noch das Meer in meinen Adern, die Berührung der beiden Daumen und die Nasenhaltung interessiert, im Sinne von “inter essere”.
“Mar de Jade” beglückte mich zutiefst und flößte mir an seinen Rändern, soweit ich diese überhaupt wahrnehmen konnte und wollte, stumme Ehrfurcht ein. Diese geschwungenen, penibel gepflegten und betonierten (?) Wege, mit rot-gestrichenen Geländern, oder gelben – ich erinnere mich nicht mehr – , von einer geheimnisvoll anmutenden Unterkunft für Gäste zum nächsten Gehäuse, leicht oder stärker bergan steigend, links und rechts Pflanzen und Schatten von Pflanzen erkennbar, die mein Fuß nie betreten hatte, und ich wusste auch nicht, ob ich das wollen würde. Denn es war schon dunkel, als ich herum irrte, obwohl die Wege durchaus beleuchtet waren. Die schwebenden, kurvigen Wege hatten übrigens Wände wie Balkons, die natürlich auch geschwungen waren und dadurch leicht und anmutig aussahen.
Ich hatte eine Abkürzung nehmen wollen, am ersten Abend, jedoch war es eine Abzweigung in den Dschungel und schlimmer: Eine Verführung ging von dieser Tropenszenerie aus, von der ich nur das Eine wusste: Meine Füße sehnten sich schon.
Mir fielen die Straßenschilder ein, auf dem Weg von Puerto Vallarta nach Nyarit, Chacalá. ‘Achtung vor Jaguaren’ las ich dort, während mir der Taxifahrer die Baumpflanzungen erklärte: Das da hinten ist Jackfrucht. Dort sehen Sie Ananas, und er erklärte weiter, während ich über Jaguare nachdachte und überlegte, ob ich eine kluge Entscheidung getroffen hatte, als ich schrieb: Ich habe das Sesshin gebucht.
9.6.2025
Wie kann das eigentlich sein?
Der Schreibfluss, so klar und innerlich begonnen, versiegte für fünf Monate. Immerhin keine fünf Jahre. Schließlich muss ich bekennen, dass einige meiner Projekte erst nach neun Jahren vom Herzen durch die Kehle zur Hand geführt haben: siehe die Berichte über die Pilgerreisen nach Griechenland/Piräus, Kalabrien, Bosnien, Auschwitz. Was noch komplett fehlt, ist der Rückblick auf drei Lampedusa-bzw. Süditalien-Reisen und die Straßen-Retreats in Paris. Alle Pilgerreisen bescherten mir unerhörte Erfahrungen, die in mein sonstiges Alltags-Leben tief eingriffen.
Erst jetzt, nach und nach, kommt mir dieser Umstand zu Bewusstsein. Ich liebe genau das Leben, das ich lebe, mit aller Unsicherheit und Angewiesenheit auf Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, auf Freunde und zugewandte Fremde, von denen es viel mehr gibt, als wir meinen. Warum ich es liebe, obwohl ich diese Schwierigkeiten und Hindernisse mit der gebrochenen Schulter, den sich weiter verschlechternden finanziellen Umständen und weiteren Alterserscheinungen habe? Weil es meins ist, echt und zu mir passend. Ich bin mit mit den Gelübden eng verbunden. Mein Alptraum war immer gewesen, dass dieser Rabbi, der bei Petrus im Himmel steht und den Anwärter fragt, ob dieser sein Leben gelebt hätte oder das eines anderem, meine Antwort mit Abscheu und Trauer hören müsste. Ich wäre gescheitert an der größten und heiligsten Aufgabe.
Niemand kann so richtig begreifen, dass ich in Hamburg einige Semester Spanisch studiert habe. Angefangen hatte ich mit Anglistik, weil ich wie mein geliebtes Vorbild Dr. Lore Lenberg, die Englisch und Deutsch am Colegio Alemán in Madrid lehrte, studieren wollte. In Deutsch war ich immer sehr gut gewesen, in der Oberstufe, und mein Englisch war vergleichsweise sehr gut geworden. Wir hatten einige sog. Überflieger in der Klasse, deren Eltern als Diplomaten mit ihren Zöglingen in Rom und Singapur oder sonst wo gelebt hatten, was bedeutete, dass deren Englisch ausgezeichnet war und ihre sonstigen Kenntnisse auch über dem Durchschnitt lagen. Ich hatte beschlossen, ohne dass meine Eltern Diplomaten waren, diesen vom Leben materiell Verwöhnten nachzueifern und ohne mit der Wimper zu zucken eine englische Tageszeitung oder Literatur in der Originalsprache zu lesen. Frau Lenberg war eine großartige Pädagogin, die voraussetzte, dass uns die Kopien der empfohlenen Inhalte in der Tageszeitung über Apartheid und die beiden als Hausaufgabe angetragenen Bücher “Vanity Fair” (William Thackeray) und “Portrait of an Artist as a Young Man” (James Joyce) interessieren würden. In der Tat, einmal über die ersten vielleicht vierzig Seiten hinweggekommen und Vokabeln nachgeschlagen, wollte ich weiter lesen.
Nach einem Semester Anglistik in überfüllten Hörsälen zu studieren und ständig in Schlangen anstehen zu müssen, ohne dass eine Änderung angestrebt werden würde, war mir die Lust abhanden gekommen. Außerdem nahm ich wahr, wie sehr meine Kommilitonen noch mit der Sprache zu kämpfen hatten, und auf Sprachschule hatte ich wenig Lust, kam ohnehin nicht zurecht mit dem Umzug von Madrid nach Hamburg, die dortige für mich riesige Universität. Das Foyer des “Philosophenturms” hing voller Ankündigungen marxistischer Gruppen, man wusste nie, was einen erwartete: Die Dozenten wurden geduzt, Referate schrieb man zu Zweit, und die Inhalte waren der zu erwartenden Revolution angepasst.
Thomas Mann wurde als bürgerlich gebrandmarkt, Kafka auch, beide Lieblingsdichter von mir. Stattdessen sollte ich jetzt Egon Erwin Kisch, Reporter aus der DDR, und den Dichter Johannes R. Becher, auch aus der DDR lesen, von denen ich noch nie gehört hatte. Heute fände ich das angemessen und interessant, sich mit dem „anderen Deutschland“ auseinander zu setzen, doch damals…- es war extrem verwirrend, unübersichtlich, verstörte und verletzte mich. In Madrid hatte General Franco noch regiert, und gerade die Lehrer und Dozentinnen in Geisteswissenschaften wie Sprachen und Geschichte der Spanischen Auslandsschulen mussten sich in Acht nehmen. Das heißt, dass wir einen an die politischen Umstände angepassten Unterricht hatten und die Schulkinder sich brav und wesentlich angepasster als in der selben Zeit in Deutschland verhielten. Das aber war in Deutschland, wie ich später von meinen Mitbewohnern in der WG hörte, genau das Gegenteil gewesen! Man lernte kaum mehr, ging auf die Straßen, um gegen die Notstandsgesetze lautstark zu protestieren, was besonders von den Schulkindern der höheren Klassen bereitwillig angenommen wurde.
Ich war nicht neugierig auf das, was die Germanistik anbot und fand die Lehratmosphäre in der Anglistik verstörend. Also zog ich Erkundigungen ein über die Möglichkeiten eines Studienwechsels und schrieb mich beherzt, ab dem zweiten Semester, für Romanistik ein: Was für ein Unterschied! Das Feeling war wie in einer gut motivierten Schulklasse, und, was ich mir nicht hätte ausmalen können, ich sprach und verstand die Sprache besser als die meisten, bekam die Bestnote für meinen ersten langen Aufsatz über eine Erzählung von Antonio Luis Borges und hatte Lust, mich nach einigen Semestern auf das Examen vorzubereiten.
Doch musste ich erfahren, dass die Hürden in Germanistik hoch waren, auch beim Studium auf Lehramt für die Sekundarstufe II, so daß ich letztendlich nach der Zwischenpüfung in Germanistik das Studium ganz abbrach. Die geliebte Germanistik hatte mich schwer enttäuscht. Bis auf die herausragenden Vorlesungen im vollbesetzten Auditorium Maximum des beliebten Germanistik-Professors Hillmann über die Geschichten von Herrn K. von Berthold Brecht hatte ich keine Freude an dieser Fakultät. Ich war so begeistert von den Geschichten und der Auslegung von Hillmann sowie der historisch-kritischen Hermeneutik, die frei neben einer subjektiv-assoziativen Interpretation stehen konnte, dass ich mich traute, als Jungstudentin meine Hand andauernd zu heben und meine Gedanken zu teilen. Ich erfuhr deutliche Ermutigung.
Freude hatte ich ebenfalls an Gastvorlesungen in Psychologie bei dem bekannten Ehepaar Tausch und an einigen Veranstaltungen in Pädagogik, die leider noch an den Nachwirkungen der “schwarzen Pädagogik“ des Kaiserreiches und Dritten Reiches krankte. Johanna Harrer*) mit ihrem grausamen Buch „Die deutsche Mutter und ihr Kind“ hatte ihre hässlichen Spuren hinterlassen. Tiefe Freude an Pädagogik würde ich erst finden, als ich mit vierzig eine mehrjährige Ausbildung bei Dr. Ruth Cohn am WILL-Institut für Lebendiges Lernen (WILL=Working Institute for Living Learning) machte. Die dort gelehrte Methode nennt sich “Themenzentrierte Interaktion (TZI)”, ein Training im Gruppenleiten, das sich auf der Grenze zwischen Therapie und Pädagogik befindet.
Seit damals sind viele Jahrzehnte vergangen. Ich war mit dreißig von Hamburg nach Bonn gezogen, mochte die kleine Hauptstadt Deutschlands am zauberhaften Rhein und ergatterte eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin im Büro des Abgeordneten Milan Horacek, „unserem“ Exil-Tschechen, Freund des politischen Aktivisten und Schriftstellers Rudi Dutschke und dem Künstler und Bildhauer Joseph Beuys bei der gerade gegründeten ‘Fraktion Die Grünen im Bundestag’. Bald schon wurde ich Mutter, die mit ihrer Tochter alleine lebte und zwischen der Welt eines Kleinkindes, der Welt der Arbeit, die ich für lange Zeit nur halbtags verrichtete und langsam zunehmenden Fortbildungen und dem Aufbau einer selbständigen Arbeit, meiner (ersten) „Berufung”, balancierte.
In dieser hochgradig spannenden Zeit im Bundestag lernte ich mehr, als ich wahrnahm. Die Lektionen gingen weit ūber meine täglichen Aufgaben hinaus, die sich im Laufe der insgesamt acht Jahre, die ich im Viertel des Bundestags, genannt “im Tulpenfeld”, arbeitete, veränderten. Mein Feingefūhl über das alltägliche Politische nahm stetig zu. Täglich hatte ich die Post in der Poststelle für meinen Abgeordneten Milan zu holen, und es war eine Menge! Viel zu lesen, viel zu verarbeiten. Texte vorbereiten, die den Vorgesetzten interessieren könnten. Hin- und herlaufen in einem riesigen Haus voller Büros anderer Parteien, an Fraktionssitzungen teilnehmen, manchmal mit Baby, wenn mein halber Büro-Tag es zuließ. Protokoll musste ich zum Glück nie führen. Man kopierte damals noch unendlich viel, und so stand ich am Kopierer und musste mich auf die Anlagen konzentrieren: Welche Anlagen gehörten zu welchem Brief an wen?
Wir erhielten Neuigkeiten, Berichte, Dokumente aus erster Hand und früher, als diese in Zeitungen erschienen. Tschernobyl, der Golfkrieg, der Bosnienkrieg gingen mir unter die Haut. Die “Entdeckung” der enormen Schädigungen der sog. Umwelt. Die Greenpeace- und Friedensaktionen und großen Demonstrationen und Kundgebungen in Bonn. ‘Fair Trade’, Dritte Welt Läden, Fair reisen, Bio-dynamischer Anbau, alternative Medizin, Antipsychiatrie, kritische Pädagogik…, das alles interessierte uns, mehr oder weniger, und ich bekam mit, wie die Dritte Welt langsam zur Einen Welt wurde. Grüne Abgeordnete fuhren meist Fahrrad im Gelände des Bundestages, versuchten damals schon, auf teure Flugreisen zu verzichten, beteiligten die Frauen (Frauenquote) und waren mit diesen Bemühungen und Fairness und Gerechtigkeit natürlich nicht allzu beliebt bei den meisten Abgeordneten und Angestellten der etablierten Parteien.
Mit meiner Tochter verbrachte ich einen Urlaub in Spanien, von Milan Horacek finanziert (er schickte uns weg, weil die Giftwolke des Stromkraftwerks Tschernobyl gefährlich nah über Deutschland hing) und einen in Italien, danach wurde das Reisen mit dem Flugzeug zu teuer. Beide Male überlegte ich ernsthaft, im mediterranen Süden zu leben und dieses Projekt zu beginnen, bevor Lisa eingeschult wäre. Ich war in Deutschland immer noch nicht zu Hause, und der nicht bearbeitete kollektive Schatten des Nationalsozialismus, aber auch die individuellen Schatten des Schweigens meiner Vorfahren, trugen entschieden zu meinem Unwohlsein bei.
Nach ‚Mar de Jade‘ zu reisen, völlig verrückt einerseits, weil ich kaum Geld für Reise und Sesshin hatte und wenig Zeit, um noch Reisetage anzuhängen, andererseits aber in gutem Sinne verrückt, weil ich während meines Romanistik-Studium immer nach Mexico wollte und mir den Sprung über den Teich irgendwie nicht zutraute.
In das von Spaniern kolonisierte Land Mexico zu reisen, interessierte mich also enorm. Mehr und mehr erfuhr ich und belehrte mich selber, zum Beispiel über viele Geistliche, die Ureinwohnern Sprache, Manieren, Outfits, und Religion aufdrängten, bis hin zum Seelenmord. Der Genozid an den Indigenen Völkern hat trotz allen Bemühens nicht zur Gänze geklappt, aber die Last, die die Nachgeborenen von Genoziden mit sich tragen, ist beträchtlich. Ihre Wurzellosigkeit, ihre Ruhelosigkeit. die Anfälligkeit für Süchte aller Arten, Suizide und vieles mehr sprechen Bände.
Doch wie geht es den Mexikanischen Schwestern und Brüdern? Spielt es nicht auch eine Rolle, dass ein Teil meiner Familie in Venezuela lebte? Ich glaube, ich fühlte mich immer feige und lahm, dass ich mit Lisa nie eine Venezuela-Reise gemacht habe. (Allerdings waren wir auch nicht eingeladen, das mag auch eine Rolle gespielt haben.)
19.6.2025
Mysterium Tremendum: Ich habe soeben einen Essay über die Geh-Meditation geschrieben. Ich hätte auch sagen können: Schreib-Meditation. Ich hätte auch sagen können: „Der Puls der Leerheit“ (Stephen Batchelor). Ich war wegen der Hitze in Mar de Jade bzw. am andren Ende der Bucht, wo ich mir für zweieinhalb Tage ein Zimmer gegönnt hatte, herrlich umgeben von schattigen, dicken Mauern in Pastell und einem Pool im Speiseraum, der auch als Lounge diente, mit Hängematten und lauschigen Sofas, eigentlich immer in Geh-Meditation. Derartige Straßen, die an etwas breitere Pfade im Hochgebirge erinnerten, die noch nie Beton gesehen haben, hatte ich nicht erwartet und schaute achtsam zu Boden, um Löcher zu bemerken, Steine zu umgehen. Doch nicht, dass Ihr denkt, hier führen keine Autos! Hier fuhr alles, was anderswo auch fährt. Ich sage ja oft, wir in Mittel-Europa sind unfassbar verwöhnt. Nach Mexico sage ich: Wir sind es noch viel mehr, als ich dachte.
1.7. 2025
Am 4.7. vor genau sieben Monaten, am 4.12. 2024, presste mich der Pazifische Ozeon zu Boden: Dorthin, wo die Juwelen liegen, laut eines Zen-Gleichnisses.
Am 4.7. hat ferner meine Tochter Geburtstag, ich denke täglich an in die Tage vor ihrer Geburt.
Was ist mit dieser „Vier“? Am 4.6. erhielt ich mein selbst genähtes Rakusu*), zusammen mit meinem Ehemann, der ebenfalls die Gelübde erhielt, durch Barbara Salaam Wegmüller, inzwischen Nachfolgerin von Bernie Glassman. In Bonn hatte die Feier stattgefunden, von Reiner und mir organisiert, bei der die Zeremonie im Mittelpunkt stand.
Am 4. März 1929 wurde meine Mutter Christiane Strunk geboren, und am 4.8. haben Reiner und ich standesamtlich in Siegburg geheiratet.
Die Zahl 4 hat sich in meine Seele durch den Geburtstag der Mutter eingebrannt.
8.7.2025
Ich sitze draußen am Kirchen-Pavillon der evangelischen Kreuzkirche, der größten der Protestanten in Bonn, mit geräumigem öffentlichen Platz und der Terrasse, die zum Café gehört. Gerade habe ich mich spontan einer Dame vorgestellt, die für Veranstaltungen hier zuständig ist. Ich fühlte mich angezogen wie vor einigen Stunden vom Kreuzgang der Münster Basilika und dem dortigen Café La Roc und dachte darüber nach, wie ich/wir, mit der Zeit, vielleicht ein lebendiges Trüppchen werden könnten, das hin und wieder kooperiert, zum Beispiel beim 22-zerstörte-Synagogen-Projekt mitwirkt. Geduld ist angesagt, aber nicht zuviel davon. Ein Festhalten an einer größeren Vision interreligiöser Zusammenarbeit, die unsere muslimischen Geschwister selbstverständlich einlädt, ihnen Platz macht. Einfach wird es nicht sein, aber wer hat von einem Rosengarten gesprochen?
Gestern las ich von zwei mexikanischen jungen Frauen, die wahrhaft heroisch bei der Rettung von in Not geratenen Texanern gewirkt haben. Wieso geht das eigentlich nicht anders herum? Wann werden wir hören, wie Texaner und andere US-Amerikaner herzhafte Aktionen für Geschwisterlichkeit mit ihren mexikanischen Mitmenschen durchführen, in einer so überzeugenden Weise, dass die Presse aufmerksam wird? Vielleicht geschieht es ja schon, und wir wir erfahren es nur nicht. Ich hoffe, dass dann die mexikanischen Zeitungen darüber berichten und Mut machen. Diese zwei-oder-mehr-Klassen-Gesellschaft muss überwunden werden, wenn wir nicht nur überleben wollen, sondern wenn wir ein Leben überwiegend in Freude und Frieden für alle anstreben.
Wenn ich irgendwo türkisblaues Meer sah – sei es in Cadiz, in Nizza, in Pescara, Lampedusa, nördlich von Palermo in Mondello Beach oder in Sithoniá, Chalkidiki – fühlte ich mich überirdisch selig. Den kleinen Engel aus Jade schenkte mir ein Sangha-Freund namens Frank vor ca. zehn Jahren. Seitdem steht er in jeder “Mitte” neben der Kerze meiner zahllosen Gruppen. Mehrfach hatte ich ihn fast verloren, in einem der Rucksäcke, mitten drin versteckt in einem der Seidentücher, in die ich auch die ‘Klangschale am Stil’ einwickelte, die ich bei Gruppensitzungen immer dabei habe. Zuletzt musste er sich im Gras in Auschwitz-Birkenau versteckt haben, wo wir in Stille saßen und später schrieben. Ich vermisste ihn am nächsten Ort, wo wir Pause machten. Das Wunder geschah: Ich erinnerte die Stelle und spürte bald die glatte Wärme des Edelsteins in meiner Hand.
Dann las ich vor einigen Jahren von einem Ort namens ‘Mar de Jade’. Die innere Reisende in mir meldete sich. Ein jährliches Zen-Sesshin würde dort stattfinden, geleitet von Norman Fischer. Das Jade-Meer, der Jade-Engel und der, mit dem ich praktizieren, üben darf, verschmolzen miteinander. Es rief mich.
Mexico hat natürlich auch noch einen anderen Klang. Seit ich 2015 zwei Praxis-Monate in Seattle, im Tempel Chobo-ji verbracht hatte, und davon die letzte Woche in den Black Hills, in Süd-Dakota, an dem wundervollsten Retreat meines Lebens teilgenommen hatte, war mein Inneres aufgeschlossen worden für die Indigenen Völker dieser Erde. Ich gehörte zu ihnen als Kind von Mutter Erde, als Buddhistin, die utopische Lehren vertritt, als Mutter und Großmutter, die sich als Anwältin aller Kinder – auch und besonders unserer inneren Kinder – , ja, allen Lebens, erlebt.
Schon vor der Reise nach Süd-Dakota war ich in Seattle intensiv auf den Spuren von Chief Seattle gewandelt, schlug einen Pilgertag zum Friedhof auf einer der Seattle vorgelagerten Inseln vor, regte die Produktion von sog. “Tobacco poaches”(Tabak-Säckchen) an, die von Buddha und Kanzeon auf dem Tempelaltar geweiht wurden. inzwischen war ich eingeladen worden in das Longhouse der Duwamish in Seattle, und schloss Freundschaft mit Cecile Hanson, der Stammes-Ratsvorsitzenden, und Ken Workman, dem Ur-,urenkel von Chief Seattle sowie der damaligen Assistentin Linda, deren Nachnamen ich nicht erinnere, und Paul Chyoken. Alle so warmherzig und entgegenkommend! Allen würde ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten wieder begegnen, zum Beispiel bei einer mehrere Stunden dauernden Demonstration für die bedrohten Orcas im Pudget Sound. Andere Aktionen fanden im Longhouse statt: wir tanzten, aßen gemeinsam, und wanderten auf einem Gedenkweg entlang des Duwamish Flusses, der stark verunreinigt gewesen war, aber sich inzwischen wieder langsam regeneriert hatte. Auch wenn die Lachse und andere Fische, von denen die Duwamish seit Urzeiten gelebt hatten, nicht mehr zu finden waren.
11.7.2025
In der Uni-Augenklinik sitze ich meist aufrecht auf meinem Bett, die Augen geschlossen nach der “Grauer-Star-Operation”, manchmal lehnte ich mich an und machte ein Nickerchen. Nickerchen kann ich heutzutage überall machen, auch mitten beim Essen, wenn ich alleine bin. Eine gute Übung, um zwischen einen unfreiwilligen, meist kurzen Nickerchen während einer Zazen-Periode und Shunyata unterscheiden zu lernen Zwar ist dies nicht ganz die richtige Formulierung, jedoch kann es lange so gehen, dass wir uns etwas vormachen und Entspannung beim Sitzen mit ‘höheren Zuständen’ verwechseln. Was einer der zahlreichen Gründe ist, warum spirituelle Lehrer oder Lehrerinnen zuweilen ein Segen sind.
Heute früh kam ich als Erstes dran, mit der Operation um 8:00 Uhr, was mir sehr gut tat. Nach der OP brachte ich eine kurze Zeit auf dem Flur zu, ließ mir meine Handtasche bringen und schrieb meinen Freunden die frohe Nachricht, dass alles gut verlaufen war. Vielleicht dachten manche, das hätten sie doch gleich gesagt, jedoch kann und möchte ich so nicht denken, als Buddhistin nicht, als Mensch nicht. Wieviele haben unerwartet Schlimmes, Tragisches im Krankenhaus erleben müssen oder irgendwo anders, und ihnen war noch nicht einmal vergönnt, sich von ihren Nächsten zu verabschieden! Wir sollten uns mit den gut verlaufenen Operationen genauso mitfreuen wie mit den langwierigen Genesungsprozessen. Den Körper beim Gesundwerden zu beobachten, dieses stille, subkutane Weben, das ich einmal gleichsam innerlich “schauen” durfte, ist und bleibt ein Wunder.
Solches Wunder durfte ich auch nach meinem Unfall in Chacalá/Mar de Jade erleben. Am 4. Tag des Sesshins, nutzte ich nach ein paar Tagen, an denen den Gästen untersagt war, im Meer zu schwimmen, die Gelegenheit der Mittagspause: die andere Flagge – ich weiß nicht mehr, wie sie aussah, sie schien das Schwimmen zu erlauben – machte ich tastende, vorsichtige, glückliche Schritte im Wasser der leise brausenden pazifischen Wellen, erst parallel zum Strand, um mich dann sanft und innerlich jauchzend zu Wasser zu lassen und immer noch fast parallel zum Strand Schwimmbewegungen zu machen, den Eingang zum Retreat-Zentrum fest im Blick. Respekt hatte ich schon gewonnen, aufgrund der roten Flagge vorher, ich, die sich als sichere, gute Schwimmerin sah.
Ich schränkte mich selber ein, wähnte mich daher auf der sichereren Seite: Kein freies Schwimmen in die Horizontlinie hinein, wie ich es gerne getan und an einem der drei Ferientage am anderen Ende der Bucht auch gemacht habe. Was weiß ich denn vom Pazifischen Meer!
Dass auch die kleinen Wellen mehr Kraft hatten, als sie ahnen ließen, merkte ich schnell. Auf eigentlich weichem, aber hier hartem, nassem Sand grob geschoben zu werden, das kannte ich von der wilden Nordsee, in der ich als junge Frau, ohne Angst, durch die Wellen tauchte. Ausdauernd war ich, und schließlich: war ich nicht schon ganz früh Rettungsschwimmerin mit Ausweis geworden? Schwimmen war mein Lieblingssport gewesen, ich hatte meinen drei Schwestern und meiner Tochter das Vertrauen in die Tragkraft des Wassers beigebracht und wie man dieser entgegen kommt.
Innerhalb weniger Sekunden würde mich eine Gewalt ergreifen und zu Boden drücken, mich über den Ozeanboden schiebend und schleifend, jenseits von jeglicher Absicht, Person, Leere traf sozusagen auf Leere, mit stummem Donnern wurde die Aussage getroffen: unausweichlich, nichts zurückhaltend, diese Begegnung. Das war die Kulmination, wie ich die Tropen schon an anderen Orten erfahren hatte, nur noch nicht so direkt.
Die Wachstumskraft der Pflanzen ist zum Beispiel überwältigend, die Früchte sind es daher auch. Dieselbe Pflanze in Deutschland war hier hundertfach üppiger, kraftvoller, Unmengen an Wasser verschlingend. Wie ich über den tropischen Wald sprechen soll, von dem ich nur einen mageren Bruchteil gesehen und gespürt habe und der auch in unseren Breiten nicht gerade zimperlich ist: Ich ahnte ein ständiges Zittern in der Luft, wie vom Flügelschlag eines riesigen und pfeilschnellen Vogels hinterlassen.
Es hatte ein seltsames „Knacks“ gemacht, als die Hand Gottes noch nachdrückte und die Schultern presste, als wenn diese eine Vertiefung im Boden hinterlassen sollten. Vorsichtig richtete ich mich auf, sah an mir herunter, ohne Interesse, dass ich über und über von klebrigem honigfarbenem Sand bedeckt war, ich hatte nur ein Interesse: Aha, laufen kann ich noch, der linke Arm schmerzte höllisch, wo ist der Eingang, wo und wie treffe ich schnell Jemanden, der mir helfen würde? (Kleidung und Schuhe holte jemand später von den Liegestühlen).
Wir befanden uns in der Mitte des 7-tägigen Retreats: Kathie Fischer Sensei (Sensei bedeutet “Lehrerin”) hatte sich mit Norman Fischer Roshi (Ein Roshi hat meist längere Erfahrung, ist “älter”) abgewechselt bei den täglich zwei Dharma-Vorträgen. Sie verwendete die wunderbare Metapher einer Raupe, als die sie uns alle sah (wie sie das meinte, erklärt sie selber, und ich werde versuchen, diese hier nachzuvollziehen), welche sich auf beinahe unsichtbare, erschütterndste Weise, in einen Schmetterling verwandelt.
11.8.2025
Der Hochsommer hat in Bonn, das vor der Klimakatastrophe „Florenz des Nordens“ genannt wurde, wieder Einzug gehalten: Ich sitze auf einer schattigen Außenterrasse eines italienischen Restaurants und esse die preiswerteste Mahlzeit auf den heutigen Speisekarten: Spaghetti con pomodori, basilico ed aglio. Es war durchschnittlich, ich könnte es besser machen. Dafür sind sind Espresso und Panna Cotta sehr gut. Zur Rechten steht der Brunnen, hinter Oleandersträuchern verborgen, und dahinter erahne ich meine Lieblings-Espresso-Bar La Roc, die in das Bonner Münster hineingebaut ist. Ich webe mit der Besitzerin an einem Plan, dort kleine, feine Schreib-Projekte anzubieten. Alles dauert mehr Zeit als sonst: Es sind schließlich Sommerferien, da kann man Juli und August für Planungsgespräche vergessen. Auch im Kirchenpavillon an der evangelischen Kreuzkirche war ich vorstellig geworden.
Irgendwann wird etwas zusammenpassen und klappen. Die alten Kooperationen scheinen alle oder fast alle nicht mehr zu stimmen. Wir werden sehen.
Etwas erinnert mich an Mar de Jade, aber ohne das atmende, gigantische, überall präsente Meer, bestehend aus flüssigem Atem. Ist es unsere Mutter, die da atmet und die natürlich auch in uns atmet? Ich hatte einen wunderbaren Platz im Zendo, der Meditationshalle. Neben der tibetanischen Nonne, deren Namen ich vergessen habe, und neben einem der älteren Praktizierenden, die in Mexico leben. Es stellte sich heraus, dass er Arzt war und mit seiner Ansicht zu dem Schulterbruch Recht behalten hatte. Zwei Sangha-Geschwister, ältere Männer, hatten sich das Röntgenbild angeschaut. Der andere hatte gesagt, nein, es ist kein Bruch.
Ich saß nah’ an den Vortragenden, verstand deren Übersetzungen ins Spanische oder vom Spanischen gut und genoss es, diese gigantisch schöne und kostbare Zeit in Madrid, die ich in meiner Jugend zwischen 16 und 18 Jahren erleben durfte, nach und nach wieder zu erinnern. 56 Jahre war es her, dass ich und Sabine, die vierJahre jüngere Schwester, in den Flieger nach Madrid gesetzt wurden, ausstiegen und in einer völlig neuen Umgebung, in nichtssagender Sprache, spannend-fremder Kultur zurechtkommen mussten. Uns vorher irgendetwas zu erklären, Sprachkurse nehmen zu lassen, sich zusammen mit uns die Stadt anzuschauen, uns zu begleiten in irgendeiner Weise, hatten unsere Eltern nicht für nötig gehalten. Unsere Freundinnen und Freunde, Lehrer, Verwandte, bekannte Umgebungen in Hessen: Adiós. Ich kann mich an keine Abschiedsparty erinnern. Schreckliche Umzüge waren wir außerdem schon gewöhnt.
Weit, sehr weit war all dies verdrängt, vor allem Schmerz, Angst, Unsicherheit, Trauer, Frustration und Wut. In Madrid würde eine furchtbare Zeit beginnen, was das häusliche Klima anging, mehr als überreizte, sensible Seelen von Jugendlichen ohnehin durchzumachen pflegen. Auf der Haben-Seite stand jedoch das Abenteuer pur: ALLES war anders! Sobald ich das Haus verließ, blühte ich (meist) auf. Neugier, Freude an langen Sommern, an einigen hervorragenden Lehrerinnen und Lehrern, einigen Freundinnen, vor allem Angelika, die mit ihrer Schwester schon alleine wohnen durfte bzw. musste (die Eltern leiteten eine deutsche Schule in La Palma), ließen mich mein chaotisches, wenig liebevolles, dysfunktionales Zuhause vergessen. Damals konnte ich noch gut trennen.
Mar de Jade: Welches verheißungsvolle Wort! Wenn wir uns zum Meditieren auf unseren schwarzen Kissen nach außen drehten, schaute ich durch schützende Lamellen auf den Pazifik. Nachmittags erreichten uns Bassklänge einförmiger Trommelmusik aus der Ferne, von denen, die täglich in der Bucht Musik machten; diese frustrierten mich. Ich hätte gerne mal nur das Meer gehört. Wie egoistisch von mir, die NICHT mit dem Ozean aufgewachsen ist und ihn nun pur und ihren Wünschen zu dienen verlangt.
14.8.2025
Wenn ich die Augen schließe und Mar de Jade “eingebe”, bin ich dort.Es war unbeschreiblich intensiv gewesen, und weil ich es mir herbeirufen kann, dauert es an, ist Teil von mir geworden. Zum Beispiel die Straßen, sobald das Auto, in dem man das Glück hat zu sitzen (in einen Bus habe ich mich nicht getraut), die betonierte Straße verlässt. Es ist wie im Hochgebirge, obwohl wir die ganze Zeit nach am Pazifik fahren, und gleichzeitig nah am Dschungel, der in Chacalá bis an den Strand reicht. Das ist wohl das Besondere jener Bucht. Also: Hochgebirge. Warum? Weil man alles so gelassen hat, wie es ist, auf und ab, krumm und teils ausgewaschen von den Wassern der Regenzeit, felsig, steinig. Ich bin in Tibet, denke ich, so hatte ich es mir immer vorgestellt, nur das Tibet wirklich bergig ist. Erde in einer Farbe, die ich nur von Portugal kenne, rotbraun. Girlanden im Wind, mit bunten Fähnchen. Eher dunkelhäutige Menschen mit herrlichen schwarzen Haaren, überwiegend, so vertraut, warum? Vielleicht habe ich mal hier oder so ähnlich gelebt. Wie stabil müssen die Autos hier sein, bei dem Geruckel, Zick-Zack fahren. Aber auch Busse gibt es. Kleine Läden, noch offen. Gibt es gleich eine Siesta? So toll hatte ich in Vallejos nicht gefrühstückt. Es war aufregend gewesen, nach der Morgentoilette – ich war nach Mitternacht im Hotel eingetroffen, nach ganz kurzer Taxifahrt, in den riesigen Speiseraum zu gehen, der schon gut gefüllt war mit Menschen, von denen die meisten nach dem Frühstück zur Arbeit gehen würden. BERGE von Obst, von Tag 1 bis Tag 10. Wassermelonen, andere Melonen, appetitlich aufgeschnitten, Papayas, Mangos, unbekannte Früchte. Gleißendes Licht, wie heute in Bonn. Morgens um die 30 Grad. Ich zahlte mit den letzten Euro-Scheinen, denn die Pin, die ich für meine MasterCard dabei hatte, funktionierte nicht. Was für ein Schreck. Ich telefonierte natürlich mit dem Büro der MasterCard, ging an verschiedene Bankautomaten, auch in eine offene Bank, und erreichte …nichts. Dieses Problem würde mich die ganze Zeit begleiten, und überall musste ich erzählen, welches Missgeschick mich ereilt hatte, von der Besitzerin des entzückenden Hotels in Chacalá, wo ich die ersten zweieinhalb Tage verbracht hatte, bis zur Rezeption in Mar de Jade bis zur Apotheke und Klinik nach meinem Unfall bis hin zum Taxi zum Flughafen. Aber die Menschen waren so hilfsbereit, kreativ, hatten Einfälle, wie man irgendwie an mein Konto herankam, liehen mir oder schenkten mir sogar etwas. Als Spende. Die Hilfsbereitschaft der mexikanischen Geschwister und einiger Sangha-Freunde war enorm.