Die sanfte Berührung des Morgens auf dem Kissen*

Wie sehr liebe ich das: Mich im Herbst, Winter noch in der schützenden Dämmerung, bald Dunkelheit, auf meinem Kissen vor der schon brennenden Kerze nieder zu lassen. Guter Gott, sage ich innerlich, ich, die ich Buddhistin bin und dem Sitzen, dem Geistestraining, der Zen-Disziplin alles verdanke, was ich heute bin.

Danke, sage ich, und werde nicht müde, danke zu sagen. Danke auch für das Schlimme, das mir widerfährt und das ganz Schlimme, über das ich nicht sprechen darf, hier, um keine Verletzungen zuzufügen. Ich meine das nicht heuchlerisch, wie man denken könnte, gelernte Kalendersätze, die nichts kosten, werde ich nicht von mir geben. Nein, ich habe es von nordamerikanischen Ureinwohnern gehört, gelesen, wie dort gebetet, gefeiert, getrauert wird. Selbstverständlich dankt man für alles, was Wakantanka, der Große Geist, gibt, wie sollten wir denn schon wieder auswählen, wir Kleinmütigen! Ich darf spüren und sagen, was mir nicht gefällt, was mich fast umbringt, das gebietet meine Ehrlichkeit. Ich darf Trauer und Widerstand und Wut fühlen, das tut mir gut, das tut anderen gut, wenn sie erfahren, sie sind mit ihren schwer auszuhaltenden Gefühlen nicht allein. Aber ich sage: Danke. Danke zu allem, ob verdient oder unverdient. Ich fand das Konzept, ob man etwas verdient habe oder nicht, ohnehin immer merkwürdig. Das betrifft auch die Karma-Lehren, deren einfache Variante ich geradezu zerstörerisch finde. Zerstörerisch für menschliche Beziehungen…, niemanden läßt man grausam leiden, wenn Abhilfe geschaffen werden kann, wie bei Hunger, Durst und Unterschlupf. Wenn wir dafür kein Herz mehr haben, dann Gute Nacht, immer noch wohlhabendes Europa.

Ich sitze also auf dem Kissen und freue mich daran. Danke dafür, dass ich mit meinen 73 Jahren keine Schmerzen habe. Im Frühjahr hatte ich welche, die haben mich viel gelehrt, zum Beispiel langsamer zu leben, mit weniger Output zufrieden zu sein, sportliche Ideen zumindest vorerst ad acta zu legen. Ich war abhängig von Hilfe, und zwar ziemlich! ich habe heute früh auch keine seelischen Schmerzen gehabt, keine emotionalen, sondern empfand stattdessen starke, ruhige Glücksgefühle. Buddhistisches Geistestraining ist zutiefst politisch. Menschen, die weniger oder keine Angst haben vor Veränderung, Tod, Nicht-Wissen, Nichts-Besitzen, sind frei von diversen Geißeln, zum Beispiel, so manipulierbar zu sein. Wir sind kaum ansprechbar durch Konsumversprechen, ein tolles äußeres Leben, messbare Wirksamkeit und Erfolg.

Ehrgeiz interessiert uns nicht mehr – war mir von jeher verdächtig, siehe das Wort “Geiz” in dem Begriff. Wettbewerbsdenken – ja, manchmal schlägt es zu, ich leide, wenn ich irgendeinen Namen am schwarzen Brett sehe, eine erfolgreiche Seminarleiterin, die sich nur noch ein paar Anregungen aus den Kursen mit mir geholt hat. Andere, die die TeilnehmerInnen meiner Workshop-Reihe für ihr Angebot einfach übernommen haben. Ich kenne einige, die schamlos, stillos die freiberufliche Etikette mißachtet haben und den langen Weg des Werbens aus eigener Kraft für das eigene Angebot nie angetreten sind. Was mich tröstet, nach so einer schmerzhaften Attacke auf den Schutz meiner Professionalität, ist die Überzeugung, dass es kaum etwas Befriedigenderes gibt als integer gehandelt zu haben. Und das Wissen, etwas aus eigener Kraft erschaffen zu haben. Wer das kennt, läßt sich nicht blenden von der falschen Bescheidenheit vieler, die grundsätzlich erwähnen müssen, dass sie genau nichts aus eigener Kraft geschafft haben. Ohne ein höheres Wesen und auch ohne die unfassbare Unterstützung der Wesen hätten sie nichts auf die Beine stellen können. Ja, klar, um einer echten Demut willen, ist dieses Bewusstsein extrem wichtig. Dennoch tut es uns und den anderen gut, daran zu erinnern, dass die Arbeit von irgendjemandem getan werden muss, um sichtbar, spürbar zu werden, und diese konkrete Arbeit: Des Lesens und Lernens und Trainierens und Reflektierens und des Auswertens sowie des Kontaktaufbaus und -haltens: Das muss jemand machen.

Man kann sich eine Weile etwas vormachen, aber die Seelen-Erosion wird voranschreiten, und der Mangel an Integrität wird seinen Tribut fordern. Auf dem Sitzkissen wird das alles, mit der Zeit, offenbar. Jahre lang kann man sich nicht ausweichen. Auch den weichen, schönen, menschlichen Seiten kann man nicht ausweichen. Der Sehnsucht nach echter Liebe, Ehrlichkeit, Verständigung. Der Sehnsucht nach Nützlichsein in diesem Leben. Der Traurigkeit über so Vieles, was unsere Vorfahren vielleicht noch Sonntags in die Kirche getragen haben.

Ich halte nichts davon, die Kirchen abzuschaffen. Aber wir sollten das Beharren auf die eine, einzige Religion aufgeben und uns endlich mit den Katholiken oder Protestanten verbinden. Es ist so lächerlich, diesen Zwist beizubehalten und gibt ein so schlechtes Beispiel unserer Friedfertigkeit und Offenheit. Wie ich als Buddhistin manchmal behandelt und angesehen werde, spricht auch Bände. Bislang bin ich noch nie von Kirchenvertretern eingeladen worden, ein Angebot zu machen über meinen buddhistischen Alltag oder die Sitzübung im Zen oder über Gewaltfreiheit – allerdings scheint sich das gerade zu ändern! Nein, es soll eher jemand aus den eigenen Reihen sein. So kommt man ganz bestimmt nicht aus dem Sumpf der Selbstbespiegelung und falscher Selbstgenügsamkeit heraus. Oder ist das zu hart?

Wir sollten einander VIEL mehr sprechen, erzählen, beitragen lassen, um eine offene, multinationale, multi-religiöse oder multi-ethische Gesellschaft zu repräsentieren.

Auf dem Kissen sitzend, sich selber und der Welt, dem Leben begegnend, bei der Gehmeditation den Boden unter den Füßen wirklich spürend, den Kaffee intensiv schmeckend, die schwierige Lebenssituation bereitwillig annehmend, den grenzenlosen Nachbarn freundlich grüßend, kann das Leben neu beginnen. Heute ist Montag.

*Das „Kissen“ steht hier auch für „Bänkchen“ oder Stuhl! Natürlich müssen wir auch im Bett uns liegend – im Notfall – meditieren können!