Fassung vom 16.10.2025

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Interessierte!

Heute entschied ich mich, diesen Text als Fortsetzungsgeschichte zu sehen und zu veröffentlichen. Wer weiß, wie lange sie noch dauert…ich bin selber gespannt. – Wie ich das praktisch anstellen werde? Ich werde darauf hinweisen, welche Einträge neu sind, was man aber unschwer am Datum erkennen kann. Wir werden sehen.
Mir macht es zunehmend Freude, das zu schreiben, was sich gerade öffnen möchte…

Vielleicht Dir und Ihnen auch?

Wie ich das mit der Übersetzung ins Englische mache, weiß ich noch nicht. Man kann sie jedenfalls nicht einfach so, mit KI übersetzt, stehen lassen, auch wenn vieles richtig gut übersetzt wird. Manches ist eben Dein ureigenster Stil und wurde so offenbar noch nie gedacht oder gesagt – da habe ich schon die seltsamsten Übersetzungs-Angebote gesehen. – Jedenfalls wird es noch viel Arbeit sein, den Gesamttext zu überarbeiten und die Kapitel, die mir wichtig sind, aufgenommen zu haben. Danke für Geduld und Verständnis sowie Nachsicht mit den vielen Fehlern.

Herzlichst,
Eure Monika

20.1.2025

Ich führe meine Verzweiflung spazieren. Immerhin, nicht sie hat mich an der Leine…, denke ich. Also erstens habe ich wieder eine schrecklich anstrengende Nacht hinter mir: Nicht schlafen können, obwohl ich weder späten Espresso noch späten grünen Tee getrunken habe…. Die Schmerzen in den Knochen rund um die linke Schulter ließen mich nicht schlafen, und die psycho-politischen Schmerzen über den Anblick von T und seine Antrittsrede über das Goldene Zeitalter Amerikas taten das ihre dazu.

Dieses Zeitalter wird golden sein, wie das Kalb golden war, die Badezimmer-Armaturen des Bischofs von Limburg vergoldet waren, die Welt hinter Zäunen aus Stahl, Eisen und Nukleardrohungen einem vergoldet vorkommen MUSS. Der Blick in die traurigen, misstrauischen, gedemütigten Gesichter mit herrlichen meist braunen Augen muss verhindert werden, man fürchtet so sehr den Hass, die Rache der von unseren Tischen Verjagten, die Heuchelei derer, die auf die Bezahlung der Peiniger angewiesen sind. Am besten, sie wären verschwunden. Tot. Vergessen. Der Wunsch danach: schlechtes Gewissen. Der Kater aller Spiele nach den hohen Verlusten, der ständigen Angst im Nacken, den höher gewordenen Dosen teuerster Drogencocktails. Man weiss genau, was die anderen denken, sie haben einen längst entlarvt, und deshalb mussten sie eingekauft werden. Gekaufte Loyalität schmeckt schal, aber schal hatte eigentlich schon das ganze Leben geschmeckt.

Die Verfasserin dieser Zeilen stammt aus einer Familie voller Suchtkranker. Hitler und dessen Spirit hatten sich diese herangezogen, er war ja selber auch süchtig, der kleine Mann. Innerlich hohl, schepperten seine Worte umso greller in der inneren Leere der Zuhörer*innen aus Hunger, Durst, Erniedrigung und Verzweiflung. Denen zu dienen, die sich selber bedienen ließen, war die weitaus interessantere Perspektive, selbst, wenn man das Heucheln und Lügen, die Sprache von Hohn, Häme und Herabwürdigung erst noch lernen musste. Einmal probiert, fiel es erstaunlich leicht, den nächsten Naivling direkt einzuschüchtern und ihn vor unmögliche Perspektiven zu stellen. Der Hosenscheisser in einem selber wurde auf diese Weise selbstsicher, so umrahmt von Leuten, die bei den ersten Dummheiten schon in rasende Begeisterung gerieten, so dass man, ohne zu zögern, den abgelegensten Traum beschwor, das jadefarbene Zeitalter, die beherzten Maßnahmen dazu unverzüglich einläutend, die die wahren Potenzmeier und feurigen Liebhaber mal gleich ihrer Wurzeln beraubte und sie Dreck fressen liess.

28.1.2025

Das alles wurde sichtbar und spürbar NACH meiner Rückkehr aus Mexico, aus den Tropen, aus einem Land, das ich mir nie hätte vorstellen können, allein aus Büchern, Erzählungen, Filmen schöpfend. Es wäre immer etwas Unwirkliches geblieben. Obwohl ich nur zehn Tage da war – drei Tage in Chacalá vor dem Zen-Sesshin*), und dann sieben Tage am anderen Ende der Bucht, also auch in Chacalá, aber im Ressort ‘Mar de Jade’ – habe ich, besonders durch die Taxifahrten über Land, einen lebendigen Geschmack bekommen können. [zur Klinik in Las Varas und wieder zurück und das zweimal, und die 2 1/2 Tage in Chacala .] Von strahlender Schönheit, Fülle und Unbarmherzigkeit der äquatorianischen Elemente, die die Wesen geformt haben. Obwohl der Begriff „Unbarmherzigkeit“ deplaziert ist. Es ist ja gerade das Sein selber, das Mysterium, wenn man will, das Größe, Tiefe, Unergründlichkeit und Nicht-Verstehen komplett zur Verfügung stellte, ja, waren wir denn nicht Teil davon?

Gehören nicht die fehlende Demut, ins Plakative verzerrt durch Größenwahn und Ignoranz aller Grenzen, aller Scham und Verbannung der Zartheit auch zu diesem Gewebe des Lebens, dass es uns nur so schaudert, uns, die wir früher vom Teufel sprachen? Man konnte, fehlgeleitet aus vielerlei Gründen, definitiv den schmalen Pfad der Tugend verlassen, um in großer Geste ein Bankett der ehrlichen Einverleibung zu feiern, unter kaltem Neonlicht, das Leben uns endgültig dienstbar gemacht, der eigene Leib uns entfremdet.

Die Tropen zeigten mir etwas Anderes, nicht zuletzt durch den Unfall, den die Pazifikwelle an mir vollbrachte: Ich war in die Knie gezwungen worden, Ohnmacht und Schicksal zu mir nehmend, dankbar, bescheiden, staunend. Das ist keine Gewalt, sondern Macht. Sie will niemanden vernichten und niemanden verzaubern. Sie ist einfach nur. Urmütterlich. Ich denke an den Gedichtband “Prendre la mer”. Man lässt tunlichst Körper und Geist am Strand, bevor man seinen Leib zu Wasser lässt. Sterben beginnt unverzüglich. Wie im Sesshin, wenn mich nur noch das Meer in meinen Adern, die Berührung der beiden Daumen und die Nasenhaltung interessiert, im Sinne von “inter essere”.

“Mar de Jade” beglückte mich zutiefst und flößte mir an seinen Rändern, soweit ich diese überhaupt wahrnehmen konnte und wollte, stumme Ehrfurcht ein. Diese geschwungenen, penibel gepflegten und betonierten (?) Wege, mit rot-gestrichenen Geländern, oder gelben – ich erinnere mich nicht mehr – , von einer geheimnisvoll anmutenden Unterkunft für Gäste zum nächsten Gehäuse, leicht oder stärker bergan steigend, links und rechts Pflanzen und Schatten von Pflanzen erkennbar, die mein Fuß nie betreten hatte, und ich wusste auch nicht, ob ich das wollen würde. Denn es war schon dunkel, als ich herumirrte, obwohl die Wege durchaus beleuchtet waren. Die schwebenden, kurvigen Wege hatten übrigens Wände wie Balkons, die natürlich auch geschwungen waren und dadurch leicht und anmutig aussahen.

Ich hatte eine Abkürzung nehmen wollen, am ersten Abend, jedoch war es eine Abzweigung in den Dschungel und schlimmer: Eine Verführung ging von dieser Tropenszenerie aus, von der ich nur das Eine wusste: Meine Füße sehnten sich schon.

Mir fielen die Straßenschilder ein, auf dem Weg von Puerto Vallarta nach Nyarit, Chacalá: ‘Achtung vor Jaguaren’ las ich dort, während mir der Taxifahrer die Baumpflanzungen erklärte: Das da hinten ist Jackfrucht. Dort sehen Sie Ananas, und er erklärte weiter, während ich über Jaguare nachdachte und überlegte, ob ich eine kluge Entscheidung getroffen hatte, als ich schrieb: Ich habe das Sesshin gebucht.

9.6.2025

Wie kann das eigentlich sein: 9. Juni!?

Der Schreibfluss, so klar und innerlich begonnen, versiegte für fünf Monate. Immerhin keine fünf Jahre. Schliesslich muss ich bekennen, dass einige meiner Projekte erst nach neun Jahren vom Herzen durch die Kehle zur Hand geführt haben: siehe die Berichte über die Pilgerreisen nach Griechenland/Piräus, Kalabrien, Bosnien, Auschwitz. Was noch komplett fehlt, ist der Rückblick auf drei Lampedusa-bzw. Süditalien-Reisen und die Straßen-Retreats in Paris. Alle Pilgerreisen bescherten mir unerhörte Erfahrungen, die in mein sonstiges Alltags-Leben tief eingriffen.

Erst jetzt, nach und nach, kommt mir dieser Umstand zu Bewusstsein. Ich liebe genau das Leben, das ich lebe, mit aller Unsicherheit und Angewiesenheit auf Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, auf Freunde und zugewandte Fremde, von denen es viel mehr gibt, als wir meinen. Warum ich es liebe, obwohl ich diese Schwierigkeiten und Hindernisse mit der gebrochenen Schulter, den sich weiter verschlechternden finanziellen Umständen und weiteren Alterserscheinungen habe? Weil es meins ist, echt und zu mir passend. Ich bin mit den Gelübden eng verbunden. Mein Alptraum war immer gewesen, dass dieser Rabbi, der bei Petrus im Himmel steht und den Anwärter fragt, ob dieser sein Leben gelebt hätte oder das eines anderem, meine Antwort mit Abscheu und Trauer hören müsste. Ich wäre gescheitert an der größten und heiligsten Aufgabe: Mein eigenes Leben geführt zu haben.

Niemand kann so richtig begreifen, dass ich in Hamburg einige Semester Spanisch studiert habe. Jedenfalls niemand in meiner Ursprungsfamilie. Angefangen hatte ich mit Anglistik, weil ich wie mein geliebtes Vorbild Dr. Lore Lenberg, die Englisch und Deutsch am Colegio Alemán in Madrid lehrte, studieren wollte. In Deutsch war ich immer gut gewesen, und mein Englisch war vergleichsweise sehr gut geworden. Wir hatten einige sog. Überflieger in der Klasse, deren Eltern als Diplomaten mit ihren Zöglingen in Rom und Singapur oder sonst wo gelebt hatten, was bedeutete, dass deren Englisch ausgezeichnet war und ihre sonstigen Kenntnisse auch über dem Durchschnitt lagen. Ich hatte beschlossen, ohne dass meine Eltern Diplomaten waren, diesen vom Leben materiell Verwöhnten nachzueifern und ohne mit der Wimper zu zucken eine englische Tageszeitung oder Literatur in der Originalsprache zu lesen. Frau Lenberg war eine großartige Pädagogin, die voraussetzte, dass uns die empfohlenen Inhalte in der amerikanischen Tageszeitung über ‘Apartheid’ und die beiden als Hausaufgabe empfohlenen Bücher “Vanity Fair” und “Portrait of an Artist as a Young Man” interessieren würden. In der Tat, einmal über die ersten vielleicht vierzig Seiten hinweggekommen, WOLLTE ich weiter lesen.

Nach einem Semester Anglistik in überfüllten Hörsälen zu studieren und ständig in Schlangen anstehen zu müssen, ohne dass eine Änderung angestrebt werden würde, war mir die Lust abhanden gekommen. Außerdem nahm ich wahr, wie sehr meine Kommilitonen noch mit der Sprache zu kämpfen hatten, und auf Sprachschule hatte ich wenig Lust, kam ohnehin nicht zurecht mit dem Umzug von Madrid nach Hamburg, die dortige für mich riesige Universität. Das Foyer des “Philosophenturms” hing voller Ankündigungen marxistischer Gruppen, man wusste nie, was einen erwartete: Die Dozenten wurden geduzt, Referate schrieb man zu Zweit, und die Inhalte waren der zu erwartenden Revolution angepasst.
Thomas Mann wurde als bürgerlich gebrandmarkt, Franz Kafka auch, beide Lieblingsdichter von mir. Stattdessen sollte ich jetzt Kisch und Becher lesen, von denen ich noch nie gehört hatte. Es war extrem verwirrend, unübersichtlich, in Madrid hatte zu jener Zeit noch General Franco regiert, und gerade die Lehrer und Dozentinnen in Geisteswissenschaften wie Sprachen und Geschichte der Spanischen Schulen mussten sich in Acht nehmen. Das heißt, dass wir einen an die politischen Umstände angepassten Unterricht hatten und die Schulkinder sich brav und wesentlich angepasster als die Kinder in derselben Zeit in Deutschland verhielten. Dies nämlich war in Deutschland genau andersherum gewesen: die Notstandsgesetze wurde lautstark in Vollversammlungen und auf den Straßen kritisiert, besonders von den Schulkindern der höheren Klassen und von Studenten. Das alles erfuhr ich natürlich erst nach und nach, von Margret, meiner Wohnungsgenossin erst in Bahrenfeld, dann in Altona, beides Stadtteile von Hamburg. In der Wohngemeinschaft ganz in der Nähe der Uni und des berühmten Abaton-Kinos, würde ich bald mit weiteren interessanten und höchst verunsichernden Denk- und Lebensentwürfen konfrontiert werden. Die drei Jahre in Madrid mit den beiden Klassenfahrten in den Norden nach Galizien und in den Süden in den von Arabern und Juden bewohnten Teil Spaniens, drohten allmählich im Untergrund zu verschwinden. Bis ich eines Tages den alten wasserundichten Stoffrucksack auf dem Vollholzschrank sehenden Auges erblickte und ihm zuhörte: Eine Reise mit dem Europabus von Hamburg nach Madrid, 36 Stunden für vielleicht 35 DM, stand wieder an.

Von Erwin Kisch und Becher hatte ich noch nie etwas gehört, war auch nicht besonders neugierig. Ich zog also Erkundigungen ein über die Möglichkeiten eines Studienwechsels und schrieb mich beherzt, ab dem zweiten Semester, für Romanistik ein: Was für ein Unterschied! Das Feeling war wie in einer gut motivierten Schulklasse, und, was ich mir nicht hätte ausmalen können, ich sprach und verstand die Sprache besser als die meisten, bekam die Bestnote für meinen ersten langen Aufsatz über eine Erzählung von Antonio Luis Borges und hatte Lust, mich nach einigen Semestern auf das Examen vorzubereiten.

Doch musste ich erfahren, dass die Hürden in Germanistik hoch waren, auch beim Studium auf Lehramt für die Sekundarstufe II, so dass ich letztendlich nach der Zwischen-Püfung in Germanistik das Studium ganz abbrach. Die geliebte Germanistik hatte mich schwer enttäuscht. Bis auf die herausragenden Vorlesungen im vollbesetzten Auditorium Maximum des beliebten Germanistik-Professors Hillmann über die Geschichten von Herrn K. von Berthold Brecht hatte ich keine Freude an dieser Fakultät. Ich war so begeistert von den Geschichten und der Auslegung von Hillmann sowie der historisch-kritischen Hermeneutik, die frei neben einer subjektiv-assoziativen Interpretation stehen konnte, dass ich mich traute, als Jungstudentin meine Hand andauernd zu heben und meine Gedanken zu teilen. Ich erfuhr deutliche Ermutigung. Übrigens lasen wir fast nur Sekundärliteratur, mit unendlich vielen Fußnoten, zu der wir abgefragt wurden. Viel später fühlte ich mich verstanden von Roger Willemsen, einem begnadeten Essayisten, der noch dazu authentisch und furchtlos schrieb. Er rechnete in einem seiner Essays mit der Germanistik ab. Ja, genauso war es gewesen, hatte ich es erlebt. Man wurde nicht ermutigt, selber zu denken, kreativ zu sein und wohlmöglich selber zu schreiben. Solche Ermutigung erfuhr ich erst zwanzig Jahre später, als ich vom Institut für Kreatives Schreiben in Berlin hörte.

Freude hatte ich ebenfalls an Gastvorlesungen in Psychologie bei dem bekannten Ehepaar Tausch und an einigen Veranstaltungen in Pädagogik, die leider noch an den Nachwirkungen der “schwarzen Pädagogik“ des Kaiserreiches und Dritten Reiches krankte. Johanna Harrer*) mit ihrem grausamen Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hatte ihre hässlichen Spuren hinterlassen. Tiefe Freude an Pädagogik würde ich erst finden – abgesehen davon, dass ich andauernd und erfolgreich Nachhilfestunden in verschiedenen Konstellationen anbot, um mir ein paar DM extra zu verdienen – als ich mit vierzig Jahren eine mehrjährige Ausbildung bei Dr. Ruth Cohn am WILL-Institut für Lebendiges Lernen (WILL=Working Institute for Living Learning) machte. Die dort gelehrte Methode nennt sich “Themenzentrierte Interaktion (TZI)”, ein Training im Gruppenleiten, das sich auf der Grenze zwischen Therapie und Pädagogik befindet.

Seit damals sind viele Jahrzehnte vergangen. Ich war mit dreißig von Hamburg nach Bonn gezogen, mochte die kleine Hauptstadt Deutschlands am zauberhaften Rhein und ergatterte eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin im Büro des Abgeordneten Milan Horacek, „unserem“ Exil-Tschechen, Freund des politischen Aktivisten und Schriftstellers Rudi Dutschke und dem Künstler und Bildhauer Joseph Beuys bei der gerade gegründeten ‘Fraktion Die Grünen im Bundestag’. Bald schon wurde ich Mutter, die mit ihrer Tochter alleine lebte und zwischen der Welt eines Kleinkindes, der Welt der Arbeit, die ich für lange Zeit nur halbtags verrichtete und langsam zunehmenden Fortbildungen und dem Aufbau einer selbständigen Arbeit, meiner (ersten) „Berufung”, balancierte.

In dieser hochgradig spannenden Zeit im Bundestag lernte ich mehr, als ich wahrnahm. Die Lektionen gingen weit über meine täglichen Aufgaben hinaus, die sich im Laufe der insgesamt acht Jahre, die ich im Viertel des Bundestags, genannt “im Tulpenfeld”, arbeitete, veränderten. Mein Feingefūhl über das alltäglich Politische nahm stetig zu. Täglich hatte ich die Post in der Poststelle für meinen Abgeordneten Milan zu holen, und es war eine Menge! Viel zu lesen, viel zu verarbeiten. Texte vorbereiten, die den Vorgesetzten interessieren könnten. Hin- und herlaufen in einem riesigen Haus voller Büros anderer Parteien, an Fraktionssitzungen teilnehmen, manchmal mit Baby, wenn mein halber Büro-Tag es zuließ. Protokoll musste ich zum Glück nie führen. Man kopierte damals noch unendlich viel, und so stand ich am Kopierer und musste mich auf die Anlagen konzentrieren: Welche Anlagen gehörten zu welchem Brief an wen?

Wir erhielten Neuigkeiten, Berichte, Dokumente aus erster Hand und früher, als diese in Zeitungen erschienen. Tschernobyl, der Golfkrieg, der Bosnienkrieg gingen mir unter die Haut. Die “Entdeckung” der enormen Schädigungen der sog. Umwelt. Die Greenpeace- und Friedensaktionen und großen Demonstrationen und Kundgebungen in Bonn. ‘Fair Trade’, Dritte Welt Läden, Fair reisen, Bio-dynamischer Anbau, alternative Medizin, Antipsychiatrie, kritische Pädagogik…, das alles interessierte uns, mehr oder weniger, und ich bekam mit, wie die Dritte Welt langsam zur Einen Welt wurde. Grüne Abgeordnete fuhren meist Fahrrad im Gelände des Bundestages, versuchten damals schon, auf teure Flugreisen zu verzichten, beteiligten die Frauen (Frauenquote) und waren mit diesen Bemühungen um Fairness und Gerechtigkeit natürlich nicht allzu beliebt bei den meisten Abgeordneten der etablierten Parteien, bei deren Angestellten schon dafür schon eher.

Mit meiner Tochter verbrachte ich einen Urlaub in Spanien, von Milan Horacek finanziert (er schickte uns weg, weil die Giftwolke des Stromkraftwerks Tschernobyl gefährlich nah über Deutschland hing) und einen in Italien, danach wurde das Reisen mit dem Flugzeug zu teuer. Die Geschichte, wie er mir das Geld für die Reise in bar übergab, ist wunderbar und herzzerreißend. Milan erzählte mir, wie er mit Beuys diskutierte, der ihm einen hochinteressanten Vorschlag machte. Milan räumte ein, dass er keinen Weg sähe, wie er dieses Projekt finanziell auf den Weg bringen könnte. Woraufhin Beuys sich auf die Zehenspitzen vor dem massiven Wohnzimmerschrank gestellt hätte, mit der rechten Hand ein Regalbrett umklammernd, mit der linken oben auf dem Rand des Schrankes herumwedelnd. Freudig grinsend setzte er die Füße ab und reichte Milan mit der Linken das, was wie ein Stück Papier aussah. Aber nein, es waren 1000 DM. Die hatte er selber geschenkt bekommen, als er nicht mehr aus und ein wusste. Ich war gerührt, und mit feuchten Augen versprach ich mir, Milan und den anderen vorher in der Kette der Wohltaten, dass ich das Geld genauso weitergeben würde. Jedenfalls reichte es gut aus für uns beide, vierzehn Tage in einem Hotel mit Küche in Mallorca zu verbringen, wo ich noch nie gewesen war. Lisa war noch jung, d.h. mein Tagesrhythmus hing ganz von ihrem ab, aber es war sehr schön. Wir machten Fahrradtouren, und ich entdeckte Buchten, so klein und geschützt, nur für uns beide.

Beide Male, als ich in Spanien war und zwei Jahre später mit der evangelischen Gemeinde in Griechenland, auf einer der Inseln der Peleponnes, überlegte ich ernsthaft,  im mediterranen Süden zu leben und dieses Projekt zu beginnen, bevor Lisa in der Schule wäre. Ich war in Deutschland immer noch nicht zu Hause, und der nicht bearbeitete kollektive Schatten des Nationalsozialismus, Schatten des Schweigens meiner Vorfahren, trugen entschieden zu meinem Unwohlsein bei.

Nach Mar de Jade zu reisen schien völlig verrückt einerseits, weil ich gerade so das Geld für Reise und Sesshin hatte, und wenig Zeit, um noch Reisetage anzuhängen. Andererseits war es aber in gutem Sinne verrückt, weil es mich während meines Romanistik-Studium immer wieder nach Mexico zog, ich mir jedoch den Sprung über den Teich irgendwie nicht zugetraute.

In das von Spaniern kolonisierte Land zu reisen, interessierte mich also enorm. Mehr und mehr erfuhr ich und belehrte mich selber, zum Beispiel über Geistliche, die Ureinwohnern Sprache, Manieren, Outfits, und Religion aufdrängten, bis hin zum Seelenmord wenn nicht Mord. Der Genozid an den Indigenen Völkern hat trotz allen Bemühens nicht zur Gänze geklappt, aber die Last, die die Nachgeborenen von Genoziden mit sich tragen, ist beträchtlich. Ihre Wurzellosigkeit, Ruhelosigkeit, Armut, die Anfälligkeit für Krankheiten und Süchte aller Arten, Suizide und vieles mehr sprechen Bände. Obwohl auf der anderen Seite ihre deutliche Präsenz und Resilienz Anlass zum Wundern und Bewundern geben. Das ist jetzt etwas leichthin gesagt, man müsste wesentlich differenzierter hinschauen, und was für den einen Stamm oder die eine Nationalität galt, war für die andere anders. Mir geht bei dieser groben Verkürzung darum aufzuzeigen, was sich mir nicht nur während des Lakota-Zeugnis-geben-Retreats in den Black Hills ins Süd-Dakota eingebrannt hatte: Unsere weiße, christliche, europäische Arroganz und ja, Schuld. Wir bilden uns  viel zu viel ein auf vermeintlich zivilisatorische Errungenschaften und spalten die hässlichen Teile, die von Dominanz, Gier und Überwältigung strotzen, von uns ab, lagern sie aus. Langsam machen sich Menschen dieses bewusst und schreiben oder sprechen über ihre Scham und denken über Wiedergutmachung nach, lassen Taten folgen.

Doch wie geht es den Mexikanischen Schwestern und Brüdern, was sagen sie selber? Welche Rolle spielt die Tatsache,  dass ein Teil meiner Familie, meine beiden Halbschwestern und deren Vater, Sabines und mein Stiefvater, für Jahre in Venezuela lebten? Ich glaube, ich fühlte mich immer feige und lahm, dass ich mit Lisa nie eine Venezuela-Reise gemacht habe. (Allerdings waren wir auch nicht eingeladen, das mag auch eine Rolle gespielt haben.)

19.6.2025

‚Mysterium Tremendum‘: Ich habe soeben einen Essay über die Geh-Meditation geschrieben. Ich hätte auch sagen können: Schreib-Meditation. Ich hätte auch sagen können: Der Puls der Leerheit (Stephen Batchelor). Ich war wegen der Hitze in Mar de Jade bzw. am anderen Ende der Bucht, wo ich mir für zweieinhalb Tage ein Zimmer gegönnt hatte, herrlich umgeben von schattigen, dicken Mauern in Pastell und einem Pool im Speiseraum, der auch als Lounge diente, mit Hängematten und lauschigen Sofas, eigentlich immer in Geh-Meditation. Derartige Straßen, die an etwas breitere Pfade im Hochgebirge erinnerten, die noch nie Beton gesehen haben, hatte ich nicht erwartet und schaute achtsam zu Boden, um Löcher zu bemerken, Steine zu umgehen. Doch nicht, dass Ihr denkt, hier führen keine Autos! Hier fuhr alles, was anderswo auch fährt. Ich sage ja oft, wir in Mittel-Europa sind unfassbar verwöhnt. Nach Mexico sage ich: Wir sind es noch viel mehr, als ich dachte.

1.7. 2025

Am 4.7. vor genau sieben Monaten, am 4.12. 2024, presste mich der Pazifische Ozean zu Boden: Dorthin, wo die Juwelen liegen, nur nicht so tief wie in dem Zen-Gleichnis.
Am 4.7. hat ferner meine Tochter Geburtstag, ich denke täglich an die Tage vor ihrer Geburt.
Was ist mit dieser „Vier“? Am 4.6. erhielt ich mein selbst genähtes Rakusu*), zusammen mit meinem Ehemann, der ebenfalls die Gelübde erhielt, durch Barbara Salaam Wegmüller, inzwischen Nachfolgerin von Bernie Glassman. In Bonn hatte die Feier stattgefunden, von Reiner und mir organisiert, bei der die Zeremonie im Mittelpunkt stand.

Am 4. März 1929 wurde meine Mutter Christiane Strunk geboren, und am 4.8. haben Reiner und ich standesamtlich in Siegburg geheiratet.
Die Zahl 4 hat sich in meine Seele durch den Geburtstag von Mutter und Tochter eingebrannt.

8.7.

Ich sitze draußen am Kirchen-Pavillon der evangelischen Kreuzkirche, der größten der Protestanten in Bonn, mit geräumigem öffentlichen Platz und der Terrasse, die zum Café gehört. Gerade habe ich mich spontan einer Dame vorgestellt, die für Veranstaltungen hier zuständig ist. Ich fühlte mich angezogen wie vor einigen Stunden vom Kreuzgang der Münster-Basilika und dem dortigen Café LaRoc und dachte darüber nach, wie ich/wir, mit der Zeit, vielleicht ein lebendiges Trüppchen werden könnten. Ich würde mir Kooperation wünschen, hier und da,  zum Beispiel beim “22-zerstörte-Synagogen-Projekt”, das ich ins Leben gerufen hatte. Geduld ist angesagt, aber nicht zu viel davon. Ein Festhalten an einer größeren Vision interreligiöser Zusammenarbeit, die unsere muslimischen Geschwister selbstverständlich einlädt, auch ihnen Platz macht, ist mir wichtig.  Einfach wird es nicht sein, aber wer hat von einem Rosengarten gesprochen?

Gestern las ich von zwei mexikanischen jungen Frauen, die wahrhaft heroisch bei der Rettung von in Not geratenen Texanern gewirkt haben. Wieso geht das eigentlich nicht anders herum? Wann werden wir hören, wie Texaner und andere US-Amerikaner beherzte Aktionen für Geschwisterlichkeit mit ihren mexikanischen Mitmenschen durchführen? Und das in einer so überzeugenden Weise, dass die Presse aufmerksam wird? Hinter den Kulissen wird sicherlich enorm viel Gutes getan. Einen beeindruckenden Fall habe ich persönlich bezeugen können. Ich hoffe, dass dann die mexikanischen Zeitungen darüber berichten und Mut machen. Diese zwei-oder-mehr-Klassen-Gesellschaft muss überwunden werden, wenn wir nicht nur überleben wollen, sondern wenn wir ein Leben überwiegend in Freude und Frieden für alle anstreben.

Wenn ich irgendwo türkisblaues Meer sah – sei es in Cadiz, in Nizza, in Pescara, Lampedusa, nördlich von Palermo in Mondello Beach oder in Sithoniá, Chalkidiki – fühlte ich mich überirdisch selig. Den kleinen Engel aus Jade schenkte mir ein Sangha-Freund namens Frank vor ca. zehn Jahren. Seitdem steht er in jeder “Mitte” neben der Kerze meiner zahllosen Gruppen. Mehrfach hatte ich ihn fast verloren, in einem der Rucksäcke, mitten drin versteckt und in einem der Seidentücher, in die ich auch die ‘Klangschale am Stil’ (Inkin) einwickelte, die ich bei Gruppensitzungen immer dabei habe. Zuletzt musste er sich im Gras in Auschwitz-Birkenau versteckt haben, wo wir in Stille saßen und später auch schrieben. Ich vermisste ihn am nächsten Ort, an dem wir Pause machten. Das Wunder geschah: Ich lief zurück, erinnerte die Stelle und spürte bald die glatte Wärme des Edelsteins in meiner Hand.

Dann las ich vor einigen Jahren von einem Ort namens ‘Mar de Jade’. Die innere Reisende in mir meldete sich. Ein jährliches Zen-Sesshin würde dort stattfinden, geleitet von Norman Fischer. Das Jade-Meer, der Jade-Engel und der, mit dem ich praktizieren, üben darf, verschmolzen miteinander. Es rief mich.

Mexico hat natürlich auch noch einen anderen Klang. Seit ich 2015 zwei Praxis-Monate in Seattle, im Tempel Chobo-ji verbracht hatte, und davon die letzte Woche in den Black Hills, in Süd-Dakota, an dem vielleicht wunder-vollsten Retreat meines Lebens teilgenommen hatte, war mein Inneres aufgeschlossen worden für die Indigenen Völker dieser Erde. Ich gehörte zu ihnen als Kind von Mutter Erde, als Buddhistin, die utopische Lehren vertritt, als Mutter und Großmutter, die sich als Anwältin aller Kinder – auch und besonders unserer inneren Kinder – , ja, allen Lebens, erlebt.
Schon vor der Reise nach Süd-Dakota war ich in Seattle intensiv auf den Spuren von Chief Seattle gewandelt, schlug einen Pilgertag zum Friedhof auf einer der Seattle vorgelagerten Inseln vor, regte die Produktion von sog. “Tobacco poaches”(Tabak-Säckchen) an, die von Buddha und Kanzeon auf dem Tempelaltar geweiht wurden.

Inzwischen war ich eingeladen worden in das Longhouse der Duwamish in Seattle, und schloss Freundschaft mit der Nichte von Chief Seattle, … NAME! und Ken Workman sowie Linda … und Paul Chekyoken. Allen würde ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten wieder begegnen, zum Beispiel bei einer mehrere Stunden währenden Demonstration für die bedrohten Orcas im Pudget Sound. Andere Aktionen fanden im Longhouse statt, wir tanzten, aßen gemeinsam, und wanderten auf einem Gedenkweg entlang des Duwamish Flusses, der stark verunreinigt gewesen war, aber sich inzwischen wieder langsam regeneriert hatte. Auch wenn die Lachse und andere Fische, von denen die Duwamish seit Urzeiten gelebt hatten, nicht mehr oder kaum mehr zu finden waren.

11.7.

In der Uni-Augenklinik sitze ich meist aufrecht auf meinem Bett, die Augen geschlossen nach der “Grauer-Star-Operation”, manchmal lehnte ich mich an und machte ein Nickerchen. Nickerchen kann ich heutzutage überall machen, auch mitten beim Essen, wenn ich alleine bin. Eine gute Übung, um zwischen einem unfreiwilligen, meist kurzen Nickerchen während einer Zazen-Periode und ’shunyata‘ unterscheiden zu lernen Zwar ist dies nicht ganz die richtige Formulierung, jedoch kann es lange so gehen, dass wir uns etwas vormachen und Entspannung beim Sitzen mit ‘höheren Zuständen’ verwechseln. Was einer der zahlreichen Gründe ist, warum spirituelle Lehrer oder Lehrerinnen zuweilen ein Segen sind.

Heute früh kam ich als Erstes dran, mit der Operation um 8:00 Uhr, was mir sehr gut tat. Nach der OP brachte ich eine kurze Zeit auf dem Flur zu, ließ mir meine Handtasche bringen und schrieb meinen Freunden die frohe Nachricht, dass alles gut verlaufen war. Vielleicht dachten manche, das hätten sie doch gleich gesagt, jedoch kann und möchte ich so nicht denken, als Buddhistin nicht, als Mensch nicht. Wie viele haben unerwartet Schlimmes, Tragisches im Krankenhaus erleben müssen oder irgendwo anders, und ihnen war noch nicht einmal vergönnt, sich von ihren Nächsten zu verabschieden! Wir sollten uns mit den gut verlaufenen Operationen genauso mitfreuen wie mit den langwierigen Genesungsprozessen. Den Körper beim Gesundwerden zu beobachten, dieses stille, subkutane Weben, das ich einmal gleichsam innerlich “schauen” durfte (nach einer Oberarmfraktur rechts) ist und bleibt ein Wunder. – Gerade fällt mir auf, dass ich zweimal mitten im Retreat einen Knochenbruch hatte: Einmal im Waldhaus – ich leitete damals ein fünftägiges Workshop-Retreat – und dann jenes im vergangenen Winter in Mexico, als Teilnehmerin. Insgesamt habe ich fünf Knochenbrüche gehabt, die Zehen nicht mitgerechnet. Dass es da eine weitere Koinzidenz gibt, erzähle ich an anderes Mal.

Solches Wunder, die ich “inneres Weben” nannte, durfte ich auch nach meinem Unfall in Chacalâ/Mar de Jade erleben. Am 4. Tag des Sesshins, sichtete ich eine andere kleine Fahne,  die die Erlaubnis zum Schwimmen gab, nach ein paar Tagen, wo dies den Gästen untersagt war, um freudig vorsichtige Schritte im Wasser der leise brausenden pazifischen Wellen, zu machen: erst parallel zum Strand, um dann sanft und innerlich jauchzend mich zu Wasser zu lassen und immer noch fast parallel zum Strand Schwimmbewegungen (Ich hatte schon Respekt gewonnen, weil man den Wellen an den verbotenen Tagen auch äußerlich kaum etwas Gefährliches ansah), den “Eingang” (vom Meer zum Strand, die Bucht ist recht langgestreckt, und wir hatten keine allzu lange Pause) zum Retreat-Zentrum fest im Blick.

Ich schränkte mich selber ein, wähnte mich daher wohl auf der sicheren Seite: Kein freies Schwimmen in die Horizontlinie hinein, wie ich es gerne getan und an einem der drei Ferientage am anderen Ende der Bucht auch gemacht habe. Was weiß ich denn vom Pazifischen Meer!

Dass auch die kleinen Wellen mehr Kraft hatten, als sie ahnen ließen, merkte ich schnell. Auf eigentlich weichem, aber hier hartem, nassem Sand geschoben zu werden, das kannte ich von der wilden Nordsee, in der ich als junge Frau, ohne Angst, durch die Wellen tauchte, ausdauernd, und schließlich: war ich nicht schon ganz früh Rettungsschwimmerin mit Ausweis geworden? Schwimmen war mein Lieblingssport gewesen, ich hatte meinen drei Schwestern und meiner Tochter das Vertrauen in die Tragkraft des Wassers beigebracht und wie man dieser entgegen kommt.

Innerhalb weniger Sekunden würde mich eine Gewalt ergreifen und zu Boden drücken, mich über den Ozeanboden schiebend und schleifend, jenseits von jeglicher Absicht, Person. Leere traf sozusagen auf Leere, mit stummem Donnern wurde die Aussage getroffen: unausweichlich, nichts zurückhaltend, diese Begegnung. Das war die Kulmination, wie ich die Tropen schon an anderen Orten erfahren hatte, nur noch nicht so direkt.

Die Wachstumskraft der Pflanzen ist zum Beispiel überwältigend, die Früchte sind es daher auch. Dieselbe Pflanze in Deutschland war hier hundertfach üppiger, kraftvoller, Unmengen an Wasser verschlingend. Wie ich über den tropischen Wald sprechen soll, von dem ich nur einen mageren Bruchteil gesehen und gespürt habe: Ich ahnte ein ständiges Zittern in der Luft, wie vom Flügelschlag eines riesigen und pfeilschnellen Vogels hinterlassen.

Es hatte ein seltsames Knacks gemacht, als die Hand Gottes noch nachdrückte und die eine Schulter presste, als wenn diese eine Vertiefung im Boden hinterlassen sollte. Vorsichtig richtete ich mich auf, sah an mir herunter, ohne Interesse, dass ich über und über von klebrigem, honigfarbenem Sand bedeckt war, ich hatte nur ein Interesse: Aha, laufen kann ich noch, der linke Arm schmerzte noch nicht, ich war unter Schock, wo ist der ‚Eingang‘, wo und wie treffe ich schnell Jemanden, der mir helfen würde? (Kleidung und Schuhe holte jemand später von den Liegestühlen).

Die Mitte des 7-tägigen Retreats: Kathie Fischer Sensei (Sensei bedeutet “Lehrerin”) hatte sich mit Norman Fischer Roshi (Ein Roshi hat meist längere Erfahrung, ist “älter”) abgewechselt bei den täglichen zwei Dharma-Vorträgen. Sie verwendete die wunderbare Metapher einer Raupe, als die sie uns alle sah (wie sie das meinte, erklärte sie selber, und ich werde versuchen, diese hier nachzuvollziehen), welche sich auf beinahe unsichtbare, erschütterndste Weise, in einen Schmetterling verwandelt.

11.8.2025

Der Hochsommer hat in Bonn, das vor der Klimakatastrophe „Florenz des Nordens“ genannt wurde, wieder Einzug gehalten: Ich sitze auf einer schattigen Außenterrasse eines italienischen Restaurants und esse die preiswerteste Mahlzeit auf den heutigen Speisekarten: Spaghetti con pomodori, basilico ed aglio. Es war durchschnittlich, ich könnte es besser machen. Dafür sind Espresso und Panna Cotta sehr gut. Zur Rechten steht der Brunnen, hinter Oleandersträuchern verborgen, und dahinter erahne ich meine Lieblings-Espresso-Bar LaRoc, die in das Bonner Münster hineingebaut ist. Ich webe mit der Besitzerin an einem Plan, dort kleine, feine Schreib-Projekte anzubieten. Alles dauert viel mehr Zeit als sonst: Es sind schließlich Sommerferien, da kann man Juli und August für Planungsgespräche vergessen. Auch im Kirchenpavillon an der evangelischen Kreuzkirche war ich vorstellig geworden.
Irgendwann wird etwas zusammenpassen und klappen. Die alten Kooperationen scheinen alle oder fast alle nicht mehr zu stimmen. Wir werden sehen.

Etwas erinnert mich an Mar de Jade, aber ohne das atmende, gigantische, überall präsente Meer, bestehend aus flüssigem Atem. Ist es unsere Mutter, die da atmet und die natürlich auch in uns atmet? Ich hatte einen wunderbaren Platz im Zendo, der Meditationshalle. Neben der tibetanischen Nonne, deren Namen ich vergessen habe, und neben einem der älteren Praktizierenden, die in Mexico leben. Es stellte sich heraus, dass er Arzt war und mit seiner Ansicht zu dem Schulterbruch Recht behalten hatte. Zwei Sangha-Geschwister, ältere Männer, hatten sich das Röntgenbild angeschaut. Der andere hatte gesagt, nein, es ist kein Bruch.

Ich saß nah’ an den Vortragenden, verstand deren Übersetzungen ins Spanische oder vom Spanischen gut und genoss es, diese gigantisch schöne und kostbare Zeit in Madrid, die ich in meiner Jugend zwischen 16 und 18 Jahren erleben durfte, nach und nach wieder zu erinnern. 56 Jahre war es her, dass ich und Sabine, die vier Jahre jüngere Schwester, in den Flieger nach Madrid gesetzt wurden, ausstiegen und in einer völlig neuen Umgebung, in nichtssagender Sprache, spannend-fremder Kultur zurechtkommen mussten. Uns vorher irgendetwas zu erklären, Sprachkurse nehmen zu lassen, sich zusammen mit uns die Stadt anzuschauen, uns zu begleiten in irgendeiner Weise, hatten unsere Eltern nicht für nötig gehalten. Unsere Freundinnen und Freunde, Lehrer, Verwandte, bekannte Umgebungen in Hessen: Adiós. Ich kann mich an keine Abschiedsparty erinnern. Schreckliche Umzüge waren wir außerdem schon gewöhnt.

Weit, sehr weit war all dies verdrängt, vor allem Schmerz, Angst, Unsicherheit, Trauer, Frustration und Wut. In Madrid würde eine furchtbare Zeit beginnen, was das häusliche Klima anging, mehr als überreizte, sensible Seelen von Jugendlichen ohnehin durchzumachen pflegen. Auf der Haben-Seite stand jedoch das Abenteuer pur: ALLES war anders! Sobald ich das Haus verließ, blühte ich (meist) auf. Neugier, Freude an langen Sommern, an einigen hervorragenden Lehrerinnen und Lehrern, einigen Freundinnen, vor allem Angelika, die mit ihrer Schwester schon alleine wohnen durfte bzw. musste (die Eltern leiteten eine deutsche Schule in La Palma), ließen mich mein chaotisches, wenig liebevolles, dysfunktionales Zuhause vergessen. Damals konnte ich noch gut trennen.

Mar de Jade: Welches verheißungsvolle Wort! Wenn wir uns zum Meditieren auf unseren schwarzen Kissen nach außen drehten, schaute ich durch schützende Lamellen auf den Pazifik. Nachmittags erreichten uns Bassklänge einförmiger Trommelmusik aus der Ferne, von denen, die täglich in der Bucht Musik machten; diese frustrierten mich. Ich hätte gerne mal nur das Meer gehört. Wie egoistisch von mir, die NICHT mit dem Ozean aufgewachsen ist und ihn nun pur und ihren Wünschen zu dienen verlangt.

14.8.2025

Wenn ich die Augen schließe und Mar de Jade “eingebe”, bin ich dort. Es war unbeschreiblich intensiv gewesen, und weil ich es mir herbeirufen kann, dauert es an, ist Teil von mir geworden. Zum Beispiel die Straßen, sobald das Auto, in dem man das Glück hat zu sitzen (in einen Bus habe ich mich nicht getraut), die betonierte Straße verlässt. Es ist wie im Hochgebirge, obwohl wir die ganze Zeit nah am Pazifik entlang fahren, und gleichzeitig nah am Dschungel, der in Chacalá bis an den Strand reicht. Das ist wohl das Besondere jener Bucht. Also: Hochgebirge. Warum? Weil man alles so gelassen hat, wie es ist, auf und ab, krumm und teils ausgewaschen von den Wassern der Regenzeit, felsig, steinig. Ich bin in Tibet, denke ich, so hatte ich es mir immer vorgestellt, nur das Tibet wirklich bergig ist. Erde in einer Farbe, die ich nur von Portugal kenne, rotbraun. Girlanden im Wind, mit bunten Fähnchen. Eher dunkelhäutige Menschen mit herrlichen schwarzen Haaren, überwiegend, so vertraut, warum? Vielleicht habe ich mal hier oder so ähnlich gelebt. Wie stabil müssen die Autos hier sein, bei dem Geruckel, Zick-Zack fahren. Aber auch Busse gibt es. Kleine Läden, noch offen. Gibt es gleich eine Siesta? So toll hatte ich in Vallejos nicht gefrühstückt. Es war aufregend gewesen, nach der Morgentoilette – ich war nach Mitternacht im Hotel eingetroffen, nach ganz kurzer Taxifahrt – in den riesigen Speiseraum zu gehen, der schon gut gefüllt war mit Menschen, von denen die meisten nach dem Frühstück zur Arbeit gehen würden. BERGE von Obst, von Tag 1 bis Tag 10. Wassermelonen, andere Melonen, appetitlich aufgeschnitten, Papayas, Mangos, unbekannte Früchte. Gleißendes Licht, wie heute in Bonn. Morgens um die 30 Grad. Ich zahlte mit den letzten Euro-Scheinen, denn die Pin, die ich für meine Mastercard dabei hatte, funktionierte nicht. Was für ein Schreck. Ich telefonierte natürlich mit dem Büro der Mastercard, ging an verschiedene Bankautomaten, auch in eine offene Bank, und erreichte …nichts. Dieses Problem würde mich die ganze Zeit begleiten, und überall musste ich erzählen, welches Missgeschick mich ereilt hatte, von der Besitzerin des entzückenden Hotels in Chacalá, wo ich die ersten 2 1/2 Tage verbrachte, bis zur Rezeption in Mar de Jade bis zur Apotheke und Klinik nach meinem Unfall bis hin zum Taxi zum Flughafen. Aber die Menschen waren so hilfsbereit, kreativ, hatten Einfälle, wie man irgendwie an mein Konto herankam, liehen mir oder schenkten mir sogar etwas. Als Spende. Die Hilfsbereitschaft der mexikanischen Geschwister und einiger Sangha-Freunde war enorm.

3.9.

Ein seltsamer Tag. Ich will nicht schreiben von dem Streit, den ich angezettelt habe. Ich bin mir manchmal selbst peinlich. Oder oft. Das einzig Gute daran ist, dass ich spüre, dass ich überhaupt kein Interesse, keine Energie an einem Streit habe. So geht es mir meist, wenn es doch zu einer momentan nicht zu klärenden Situation kommt, unter der ich anfangs enorm leide, sie dann aber vertrauensvoll sein lassen kann. Natürlich würde ich die nächste Gelegenheit nutzen, mich zu entschuldigen, die andere Person fragen, wie es ihr geht und deutlich machen, wie sehr MIR zumindest an einer schnelligen friedvollen Beilegung der Spannungen gelegen ist.

Sabine, meine Schwester hat mich lobend erwähnt letzte Woche, als eine Freundin mit uns war, wie ich zu handeln pflege. Sie leidet darunter, dass sie öfter so knarzig sei, sie benutzte ein anderes Wort, aber ich bin es auch. Nicht unbedingt mit ihr, aber mit anderen. Ach…

Der Sommer geht zu Ende, man merkt es am Licht.

Ich habe eben alles noch einmal durchgelesen, Fehler korrigiert, Einfügungen gemacht, wo ich fand, sie müssten zur Erklärung hinein, manches wollte aber auch noch erzählt werden.

Ich würde gerne über meine Zimmergenossinnen in Mar de Jade schreiben. Oder wie ich sandüberhäuft und unter Schock unser Zimmer erreichte. Der unvergessliche Weg in die Klinik von Las Varas…. Aber ich muss doch noch einmal raus und etwas einkaufen, vielleicht finde ich morgen die Zeit zum Weiterschreiben, obwohl ich ENDLICH mit substantiellem Aufräumen begonnen habe.

26.9.

Zwei Themen beschäftigen mich in den letzten Tagen: Das Zen-Sesshin selber, weshalb ich schließlich die weite Reise auf mich genommen hatte. Und wie ich zu meinen Französisch- und Italienisch-Kenntnissen gekommen war. Beide Sprachen würden sich in den vergangenen fünfzehn Jahren als ausgesprochen nutzbringend erweisen. Beginnen wir doch mit diesem Punkt.

Wenn man eine Deutsche Schule im Ausland besucht, ist es üblich, das man Unterricht in einer weiteren Sprache hat als die Kinder in Deutschland. Meistens ist es die Sprache des Landes, in welchem die Schülerin lebt. Das ist logisch. In meinem Fall, erst mit sechzehn das Gymnasium zu wechseln, wird es schwierig. Wie sollte ich das Niveau der fließend Spanisch sprechenden Gleichaltrigen erreichen, manche von ihnen waren Spanierinnen oder Spanier, deren Eltern es für günstig hielten, ihren begabten Sprössling auf einer Deutschen Schule ausbilden zu lassen, deren Ruf in der Welt ausgezeichnet war? Eher kann man sagen, dass das Niveau des Deutschunterrichts niedrig war, weil manche Teenager bedeutend eloquenter in Englisch und Spanisch waren. Ich liess mich also beraten und nahm das Angebot an, Französisch in Form von Privatunterricht zu lernen und das Vorabitur in jener Sprache abzulegen. Ich sollte die einzige bleiben, die geprüft wurde. Da ich auch Latein bis zum Abitur hatte, was mir immer mehr Freude machte, je mehr wir übersetzten, war es natürlich eine Lernerei ohne Ende, sich durch die Grammatik der betreffenden Sprache durchzukämpfen und dabei ständig den Wortschatz zu erweitern. Frau Harder war meine Französisch-Lehrerin, sie trug einen üppigen Pferdeschwanz, war ungeschminkt und natürlich, und wir mochten einander. Sie und ihr Mann bewohnten einen ähnlichen Bungalow wie wir, in der “Zona Residencial El Bosque”. Ich konnte leicht zu Fuß dorthin gehen. Französisch fand ich viel schwerer als Englisch und Spanisch, was aber nichts heißen will. Es kommt so sehr darauf hin, unter welchen Umständen wir eine Sprache lernen, vor allem auch, ob es freiwillig geschah oder wenigstens begann, und wie die Beziehung zur Lehrerin, zum Lehrer war. und: Welche Sprachen wir schon vorher gelernt hatten. Die erste romanische, lebendige Sprache nach Latein, konnte nicht anders als schwer sein. Schließlich wurde ich erwachsen, begann, alleine zu reisen, und wollte mich in der neuen Sprache unterhalten können! Ich glaube, es war in der 12. Klasse, dass ich zwei Wochen meines Sommerurlaubs in Südfrankreich verbrachte, auf einer französischen Sommerschule. Es war absolut chaotisch von den Verhältnissen her, den Beziehungen, und genügend zu essen für uns angehende Twens gab es auch nicht. An Unterricht erinnere ich mich schwach, aber überdeutlich an die interessanten Jungen, an meinen aufreizenden Wickelrock, den mir meine Mutter genäht hatte, an den Pool ohne Wasser und dass das Wasser im alten Schloss überhaupt rationalisiert wurde, sowie welche Lehrerin welchen Lehrer liebte, weshalb der Unterricht nicht unbedingt pünktlich begann. Wir machten böse und wissende Witze. Man musste schließlich irgendwie aus dem Bett kommen.In unserem Alter wurden Jungen und Mädchen noch getrennt, was wenig nützte. Das Lebenstraining spielte sich abends unter tiefschwarzem Himmel ab. Geld hatte keiner von uns, also brach man abends in die Küche ein, Baguette fand sich immer. Wein wahrscheinlich auch.
Hatte ich etwas gelernt? Ja. Ich erschien im Unterricht, im schwach besetzten Raum, wie ich es bis heute gewöhnt bin. Ich lerne einfach gerne, wenn ich mich einmal entschieden habe und Lehrangebot und Lehrer einigermaßen ansprechend sind.

In Französisch habe ich kein einziges Buch gelesen, was einen bedeutenden Unterschied macht. Ich mochte und mag noch immer den Klang der Sprache und konnte schnell fließend laut vorlesen. Zuhörende Franzosen dachten, ich könne so gut verstehen und sprechen wie ich las. Meine ersten Erfahrungen mit Franzosen waren, als ich schließlich in meiner Studentenzeit alleine reiste, meist von Hamburg nach Spanien und zurück, verheerend. Ich fand sie arrogant, traute mich lange nicht, das zu sagen, bis ich auf jemanden traf, dem es genauso ging. Und sie machten, übrigens ist dies heute noch manchmal so, keinen Hehl aus ihrer Geringschätzung gegenüber Deutschen. Die Angst davor habe ich inzwischen völlig verloren, weil ich mich unabhängig fühle, freundliche Franzosen kennen gelernt habe und weil ich sie, was Fremdsprachen angeht, ganz schön unbeweglich finde. Bis mal jemand ein deutsches Wort in den Mund nimmt, einfach, um Dir entgegen zu kommen…, oder das Englisch verbessert wird, damit man eine gemeinsame Basis hat…, da kann man lange warten.

Ich würde heute, ungeachtet der Altlasten aus der Nazi-Zeit (Deutsche hatten sich schließlich extrem unbeliebt gemacht bei ihren Nachbarn), in Paris leben können und wollen, sagen wir, für einige Monate im Jahr. Einige Zeit dachte ich darüber nach, wie ich mich dem Zen-Studium intensiver widmen könnte, jedenfalls solange man ein Bett, manchmal auch ein ganzes Zimmer im Souterrain, fast kostenlos im Dana-Center “mieten” konnte. Zu meinem Leidwesen wurde dieses Zimmer von einem Meister der Akupunktur und des Qigong (war es tatsächlich der Sohn des berühmten Zenmeisters Maezumi, der auch zu meinen Ahnen gehört?)regulär bezogen. Damit war diese schöne Option vorbei. Meine Geschäfte liefen immer schlechter und die interessante Option von mehreren Wochen Zen rückte in weitere Ferne. Inzwischen müsste ich eine Spendenaktion machen, um mir so eine kostbare Zeit noch leisten zu können. “Kloster zu Hause” ist auch wunderschön, und ich lerne dazu, so oft Nein zu sagen, bis ich das eine Mal Ja sage. Diese Fähigkeit gehört zu einem Lebenskunst-Weg unbedingt dazu.

Paris ist eine unvergleichlich schöne und schon rein architektonisch interessante europäische Stadt, die ich bei jedem Wetter mag: mit einem ausgeklügelt-guten U-Bahn und fantastischem Busnetz, herrlichen Cafés, Parks unvergleichlichen Angeboten in Kunst, Philosophie und Lebenskultur. Als ich Zen im Dana Center, Montreuil, und auf den Straßen von Paris (während der beiden Straßen-Retreats) s praktizierte, war ich zwar angestrengt von den Fahrten durch die noch etwas beängstigende Riesenstadt, jedoch zunehmend angesteckt von französischer Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit. Von beidem haben zumindest wir alt gewordenen Deutschen wenig oder haben es uns abgeguckt und gelernt.

Wenn die französischen Freunde in der kleinen, aber geschickt eingerichteten Küche des Zen-Hauses standen, aßen oder kochten, oder beides stattfand (nirgendwo wurde so viel eingekauft und gekocht wie in Paris!), verstand ich …nichts. Fast nichts. Das war eben der Unterschied zu der Art, wie ich die anderen Sprachen kennenlernte. Ich schaute Filme in Original-Sprachen, las Zeitung, lernte Lied-Texte, las im Original, am meisten in Englisch, dann in Italienisch. Als ich Spanisch aufsaugte, wie ein Kind, IN dem Land selber, und mich durchschlug, wie man so sagt, sog ich Klang, Musik und Grammatik wie nebenbei ein. Das wirkt tausendmal mehr als jedes Sprachlehrbuch. Weil ich das so intensiv wahrnahm und ja auch als Pädagogin arbeitete, kann ich mich kreativ auf die Menschen einstellen, die eine Sprache lernen wollen. Sprach-Unterricht KANN und MUSS Spass machen, sonst bleibt nichts hängen. – Wer also Unterricht von mir haben möchte – ruf’ an! Meine Grenzen in den jeweiligen Sprachen kenne ich. Auch Nachhilfe für SchülerInnen/Studenten habe ich immer wieder gegeben. – Vorträge über buddhistische, philosophische Themen habe ich gut verstanden, wenn nicht zu schnell gesprochen wurde. Ich übte, auf Französisch zu fragen und machte natürlich Fortschritte, anders geht es nicht. Wenn man Menschen nahe kommen, Freundschaften aufbauen möchte, kümmert man sich am besten darum, dessen Sprache zu lernen. Es ist sehr nützlich für die Persönlichkeitsentwicklung, in den hilflosen Zustand eines stammelnden, bedürftigen Kindes hineinversetzt zu werden, weil man erst dreißig, wenn überhaupt, Vokabeln kann, und eigentlich die eigene Komplexität zum Ausdruck bringen möchte. Oft hörte ich Bedauern von Jemandem, dass er oder sie diese oder jene Sprqche nicht gelernt hätte. Ich sage dazu lieber nichts, weil meine Antwort nur schmerzen kann. Meiner Ansicht nach sind es Faulheit und Angst, sich schlecht auszudrücken. Ein völlig falsches Verständnis von Sprache entsteht und wird aufrecht erhalten. Der zwischenmenschliche Gewinn ist nicht aufzuwiegen, wenn die Touristin beginnt, Griechisch zu sprechen, Danke, bitte, Entschuldigung in der Landessprache zu sagen, jeden Tag zehn neue Vokablen lernt, manchmal fragt: Wie heißt das auf Griechisch?, das Alphabet lernt, und vielleicht beschließt, einen Kurs in Griechisch an der Volkshochschule zu belegen! Wenn ich erschöpften Migranten auf Arabisch sagen kann: Wie geht es Dir, mein Freund? Und umgekehrt, dem Flüchtling helfe, hiesige wichtige Worte zu lernen und gut sprechen zu können.

Da ich gerne lese, Literatur, Poesie, aber auch gute Fachbücher und Essays, sind mein Anspruch und meine Lust auch darauf gerichtet, eine Schriftstellerin im Original lesen zu können. Wer dies als Ziel hat, wird ganz anders an die neu zu erlernende Sprache herangehen, als die Person, die sich mit der Kultur des Landes in seinen Ferien beschäftigen möchte. Ich versichere Ihnen, es ist wirklich ganz anders. Metaphern und Sprachklang mit allen Assoziationen sind NICHT ÜBERSETZBAR, wenn jemand meint, in wortgetreuer Übersetzung tätig werden zu müssen. Sie sollten in beiden Kulturen schwimmen können, um diese große Übersetzungsleistung zu vollbringen. Was ausreicht, meiner Erfahrung nach, ist, von der fremden in die eigene Sprache zu übersetzen, falls man eine hohe Empathie gleich Schwingungsfähigkeit, mitbringt. Ich würde mich nicht trauen, verlässlich und professionell, ins Englische oder Amerikanische zu übersetzen. Was ich kann, ist, eine gute von einer schlechten Übersetzung zu unterscheiden, doch das konnte ich früher schon. Man braucht dafür große Erfahrung (viel lesen!) und hohe Sprachsensibilität. Es gibt einen großen Irrtum, wenn über Sprache gesprochen, sogar geurteilt wird: Alles Geschriebene, Gesagte, besonders aber das Verdichtete, in Belletristik und Lyrik, leben ebenso von dem, was nicht gesagt wurde, von den Kontexten, die sich dadurch auftun! Insofern ist die Sprache der Musik ähnlicher als wir denken, Takt, Rhythmus, Klang, Stimme färben den Text in unnachahmlicher Weise ein. Wenn man dazu die Lust am Durcharbeiten und Erschließen, Entäussern und Empfangen, die Freude am Verstehen und das Ringen, Nichtverstehen nicht als trennend zu erfahren, nimmt, dann kann uns KI nichts anhaben. Es interessiert mich einfach null, außer, mir z.B. beim Übersetzen zu helfen. Und trotzdem muss ich Zeile für Zeile durchgehen, weil manchmal ein richtiger Mist da steht. Der Roboter kannte einfach meine Denkungsart und Ausdrucksweise nicht. Wer sich auf KI verlässt, wo es wirklich auf Inhalt und Verständigung, kreativer zwischenmenschlicher Dialogarbeit oder schöpferische Denkleistung ankommt, kann kein Selbstvertrauen haben und nur wenig Selbstachtung.

2.10.2025

Heute hat meine liebe Schwester Sabine Geburtstag. Natürlich haben wir schon telefoniert. Und, seit gestern Abend, ist Jom Kippur, der höchste Feiertag der Juden. An welchem so „gerne“ Anschläge in Deutschland verübt wurden! Ich fühle mit, und obwohl ich das strenge Fasten nicht schaffe, bin ich tief berührt beim Gedenken an die weiß Gekleideten, Fastenden, Betenden, Bereuenden.

Als Nächstes schreibe ich über das Sesshin in Mar de Jade. Und muss schon beim bloßen Gedanken weinen. Es war derartig überwältigend schön, und ich wusste, ich würde wohl eher nicht wieder kommen können, und der bloße Gedanke wollte mir beinah‘ das Herz brechen. Ob ich meinen Lehrer, Mentor, Freund Norman Fischer noch einmal wieder sehen, erleben würde, „face to face“, auch das stand in den Sternen geschrieben. Ich würde diese Sprache, die Sprache der Sterne lernen müssen.

15.10.2025

Ich finde das, was ich gestern schrieb, ganz schön kitschig, aber was soll’s.  Denn, wenn man weiß, dass Zen-Sesshins anstrengend sind; dass ich mir die Schulter gebrochen und Nachts starke Schmerzen hatte und ziemliche Hämmer von Schmerzmitteln nahm; dass ich Enttäuschung in mir trug, weil ich es mir ab dem Zeitpunkt des Armbruchs nicht mehr zutraute (ich lief schwankend, musste mich manchmal setzen… nahm starke Schmerzmittel), die mir zugedachte Aufgabe in der Gruppe zu erlernen, dann wird das Bild runder von dem, was ich aufgeben musste.

Insgesamt wurde ich zweimal ordentlich durchgerüttelt, im Auto mit Orthese sitzend, während mich einer der freundlichen Arbeiter des Ressorts nach Las Varas, dem nächsten größeren Ort, zum Arzt fuhr. Wenn ich mich recht erinnere, gab es keine, oder kaum gepflasterte Straßen. Bei uns in Deutschland gab es diese vor dem 2. Weltkrieg auch noch nicht. Dies wusste der von mir sehr geschätzte Rainer Selman, ein Stadtspaziergänger und Reiseführer aus und für Bonn, zu berichten. Als ich 2003 mit meinem damaligen Ehemann Reiner Hühner nach Polen fuhr, in die beiden Heimatstädte meiner Mutter, Landsberg an der Warthe, wo sie zur Höheren Schule und auf ein Internat ging, und Vietz an der Ostbahn (heute Witnica), wo sie geboren war und überwiegend lebte, begegneten mir ähnliche ungepflasterte, matschige Wege um Teiche herum, mit Gänsen, Enten, Hunden und windschiefen Häusern. Ich war nur anfangs schockiert über die anscheinende ‘Armut’, gewöhnte mich aber bald und gerne daran.

Die Klinik in Las Varas lag in einem Haus, das wie die anderen nach einem normalen zweistöckigen Wohnhaus aussah. Die Arzt-Praxis betrat man nach wenigen Stufen einer Treppe im Parterre, und sie bestand aus drei kleinen Räumen: Einem Wartezimmer, in dem ein Baby auf dem Boden spielte, seine gelassen wirkenden Eltern, zwei Krankenschwestern (eine von ihnen stellte sich mir als Ärztin vor), in weiß und pink gekleidet, unterhielten sich miteinander und den Wartenden. In dem zweiten Raum wurde ich empfangen und befragt. Im dritten wurde geröntgt. Alles war Abenteuer und machte mich hellwach. Ich war bezaubert, liebe ja sehr diese lateinamerikanischen Länder. Schmerz hielt mich sowieso hellwach. Computer gab es nicht, und trotzdem konnte ich mit einer sehr alten Maschine geröntgt werden. Meine Verletzung war üblich bei diesen überraschenden Wellengängen, erfuhr ich. Hoffentlich musste ich nicht in der Klinik bleiben und operiert werden. Die Klinik bestand sicherlich aus ähnlichen Räumen mit ein paar Betten. Alle waren sehr freundlich und zuvorkommend. Mein Spanisch reichte nicht für die Fachausdrücke. Anscheinend war nichts gebrochen. Ich würde eine Art enges Leibchen anziehen müssen, das Arm und Schulter ruhig hielt.

Ich habe wenigen Menschen erzählt, dass ich nach der Scheidung meiner Eltern, die Sabine, meine leibliche und vier Jahre jüngere Schwester und mich durch die Art, WIE sie durchgeführt wurde, traumatisierte, einen schweren Knochenbruch durch einen Schlittenunfall erlitten hatte, der mein Leben dramatisch verändern würde. Nach der Trennung, an dem neuen Wohnort Wölfersheim in Hessen, für Kinder damals weit entfernt von Freunden und Verwandten, hatte ich mir AUCH LINKS den Oberarm gebrochen.Es war ein komplizierter Bruch, der operiert werden musste, ein langer Nagel wurde hinein getrieben und musste ein Vierteljahr dort bleiben. Den Arm hatte ich abgespreizt zu halten, Tag und Nacht, was nicht schwer war, denn der ganze Oberkörper war eingegipst. Ihn danach wieder bewegt zu bekommen, ohne Physiotherapie, war höllenschmerzhaft.

Was soll das Ganze? Ich will hier niemanden langweilen, aber ich erinnerte, während der Meditation im Haus Felsentor, einem traditionell gebauten Meditationstempel im Herbst 2023, während eines Sesshins mit Vanja Palmers Roshi, dass ich mit dreizehn Jahren eine Nahtod-Erfahrung hatte und sterben wollte.

Beide Sesshins würde ich übrigens  fast jedem Interessenten  empfehlen, das in Mar de Jade und das in Haus Felsentor, Schweiz. Du kannst mich auch anrufen, wenn Du Fragen diesbezüglich hast. –

Wie seltsam ist alles miteinander verknüpft? Ich hatte eine wirklich wunderbare Krankenschwester in den drei Wochen, in denen ich in Friedberg Hessen im Krankenhaus lag. Der kranke Arm hing lange Zeit, oben irgendwie befestigt, ich konnte mich kaum bewegen, und hatte fast keinen Besuch (jedenfalls kann ich mich nicht erinnern), und Handys gab es noch nicht. Ich habe oft geweint, auch wegen der Schmerzen. Damals bekam ich noch Penicillin, war aber allergisch dagegen, also hatte ich auch noch mit der Allergie am ganzen Körper zu kämpfen. Die Schwester saß oft bei mir, am Bett und hörte mir zu, tröstete mich. Ab irgendeinem Zeitpunkt durfte ich dann aufstehen und ihr helfen., Wagen mit den Mahlzeiten darauf herumfahren, austeilen, Geschirr wieder einzusammeln und so weiter. Ich befreundete mich mit einer alten Dame über 93 Jahren an, die einen Oberschenkelhalsbruch hatte. Sie hatte große Sorge, nicht mehr laufen zu lernen.

Nachdem ich wieder zu Hause war, überraschte ich meine Familie damit, dass ich darauf bestand, Sonntags nachmittags mit dem Zug nach Friedberg ins Krankenhaus zu fahren und dort zu helfen. Ich war erwachsen geworden und habe mir nichts mehr sagen lassen. Mein Vater war weit weg, und auch er verhielt sich kindisch und selbstbezogen, wie meine Mutter. Mein Stiefvater war in gewisser Weise ein Störenfried, den Sabine und ich nicht akzeptierten, was eine übliche Reaktion nach Trennungen ist.  Auf der anderen Seite erkannte er meine Intelligenz, zum Teil jedenfalls, und unterstützte hin und wieder gewisse Schlussfolgerungen von mir und erteilte Erlaubnisse, bei denen meine Mutter weniger großzügig war.

Das Retreat-Zentrum Mar de Jade, an dem einen Ende der Buch von Chacalá, wo der Dschungel bis ans Meer reicht, ist erst einmal atemberaubend …ruhig …, während Du es betrittst, an hinter Palmen versteckten mehrstöckigen Häusern vorbeigehst, bis Du von alleine an der flachen Hütte der Rezeption landest. geradeaus wärst Du auf ein weiteres, mehrstöckiges Haus zugegangen, links an einer weitläufigen Veranda vorbei, mit wie hingewürfelten Tischen und Stühlen, oder Sesseln, im vorderen Bereich würdest Du einige Sofas sehen, auf denen oft Menschen sitzen, die ankommen oder abreisen oder sich zu einem Ausflug verabredet haben. Die Rezeption ist sehr nah von dort, denn Du kannst dort alle Informationen und Unterstützung bekommen, die Du brauchst, oder den Hinweis, wo Du diese bekommst.

Es gibt auch noch einen Bereich mit Sofas und Sesseln, von dem Du durch die meist geöffnete, riesige Fensterfront das Meer geniesst und den Himmel, und nur das Meer und den Himmel. Mehr brauchst Du nicht. Du hast vielleicht ein Badetuch dabei und gehst zwanzig Schritte zum Pool oder zwanzig in eine leicht andere Richtung, legst Deine Sachen auf einen Liegestuhl und begibst Dich ein paar Schritte weiter ins Wasser. Oder Du schaust nach rechts und auf die Uhr: Denn man könnte verloren gehen, spazieren soweit das Auge reicht, am Strand entlang, am winzigen Hafen von Chacalá entlang und dann schauen, was um die Ecke der Bucht liegt oder ein Boot mieten oder Chacalá anschauen.

Am Ankunftstag, als ich ein Taxi in Vallejos gerufen hatte, das mich mit meinem Gepäck ins Ressort bringen würde, konnte ich kaum auspacken, so aufregend war alles. Aufregend und … schön. (Vom Meer habe ich noch nicht gesprochen, weil es mich so sehr ergriffen hat, dass sein Klang überall und immer zu hören war, auch im Bett (Unsere Räume lagen nicht unmittelbar am Wasser). Das ist für mich der Inbegriff von Glück. Schließlich wohnte meine Großmutter genau zwischen zwei Meeren und am Kanal, der beide verband: Nord- und Ostsee. Als man die Ferien sinnvollerweise noch bei den Verwandten verbrachte und die Kinder dadurch die Familienmitglieder wirklich kennen lernten und auch lernten, sich anzupassen und wie andere ihren Alltag lebten, gehörte es dazu, täglich im Kanal zu schwimmen, selten im Schwimmbad in Albersdorf, bei Ausflügen mit der Großmutter an die Nordsee zu fahren, meist nach Büsum. Direkt am Meer habe ich nur in Italien in den Ferien mit Carlo gelebt, in Holland SEHR nah, nur durch Dünen vom Wasser getrennt. Auf der Insel Baltrum, wo ich öfter fünftägigen sog.Bildungsurlaub gegeben habe, lag unser Hotel auch direkt am Meer, so dass wir unsere Körperübungen und Gehmeditationen immer am Strand machen konnten. Ich liebte das. Ich erinnere mich auch daran, wie Irène Bakker Sensei, während des Sesshins 2018 mit Roshi Joan Halifax in Holland, die Freiwilligen von uns morgens im Dunkeln in die Autos verfrachtete und mit uns an den Strand fuhr. Dort saßen wir Zazen, immer noch im Dunkeln, nah dem Meer, in einer Reihe. Auch ein unvergeßliches Erlebnis.

In Stille zu sitzen, zu gehen, zu liegen, zu SEIN, direkt dem Wunder eines unermesslichen Meeres zu lauschen: Allein dafür lohnt es sich, nach Mexico zu reisen. Ich konnte nur drei Tage anhängen bzw. vorschalten, aber Du, lieber Leser möchtest danach vielleicht die schon längst fällige Rundreise antreten: Ich möchte Dich dazu ermutigen.

Adiós, hasta pronto!