Unsere Aktionen bzw. die Haltung dahinter nannten und nennen wir „Menschsein in unserer Stadt/Region/in unserem Land“.
Zu erwähnen ist ferner, dass meine Mutter Flüchtling war, sie war mit siebzehn Jahren aus dem heutigen Polen (Posen) geflohen und hatte, wie ich erst vor einigen Jahren erfuhr, einen entsprechenden Stempel im Pass! Man weiß aus der Psychologieforschung, dass gerade verschwiegene Themen aufgefangen und weitergegeben werden an die nächste oder übernächste Generation, und mir kommt es so vor, als hätte ich Bilder und Gefühlsbotschaften als Erstgeborene zu Hauf empfangen – wie viele meiner Nachkriegskindgeneration – und auch der nächsten, der Kriegsenkel und -enkelinnen. Wie naheliegend war und ist es für mich, mich Geflüchteten nahe zu fühlen! Dabei waren die sprachlichen und kulturellen Barrieren nicht so groß wie die zwischen den unterschiedlichsten weißen Deutschen und den Afrikanern und Afrikanerinnen, denen wir seit Jahren begegnen, im Fernsehen, Flüchtlingsheim, in Kitas und Straßenbahnen, bei Ärzten und auf Ämtern.
In den langen Jahren von Psychotherapie und kunsttherapeutischen Fortbildungen, künstlerischen, gruppenpädagogischen, schamanischen Potenzialentwicklungstrainings, Kommunikations- und Achtsamkeitstrainings und bald auch eigenen heilsamen Angeboten wie dem Langzeitprojekt „Frauenschreibschule KALLIOPE“ lernte ich die „Verwundete Heilerin“ in mir und in anderen immer tiefer kennen. Innere Schattenarbeit. Auch in 12-Schritte-Gruppen war ich regelmäßig gewesen. Und sie, Kanzeon, stellte ihre Weisheit immer bereitwilliger zur Verfügung.
Zen-Peacemaking war und ist für mich, für uns, immer auch das, wie Bernie Glassman Roshi es nannte: sich in Liebe dem zuwenden, das unterversorgt ist. Das im Schatten liegt, voller Scham und Not, und das ganz tief mitschwingt mit Wohnungslosen, Gestrauchelten, Ehr- und Wehrlosen. Braucht jede Gesellschaft ihre Unberührbaren? Um sich darüber stellen zu können, erhaben, selbst in der Not?
Für den Schutz und die Würdigung von jüdischen Menschen, jüdischer Kultur eintreten. Für Sinti und Roma, die bislang am untersten Ende der Skala offiziellen Ansehens gestanden haben, noch nicht einmal wert, betrauert zu werden in Diffamierung, Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung. Sogenannte behinderte Menschen, die Hitler mit seiner Gefolgschaft auf besonders perfide und hinterlistige Weise ihren Familien entfremdete und mit Gas und bei sadistischen Versuchen töten ließ.
Menschsein bedeutet für uns, sich im Antlitz des anderen wiederzuerkennen. Das Spiel der „zivilisierten“ Nationen nicht mitzuspielen, zu lügen, zu betrügen und sich – ausschließlich – mit denen zu identifizieren, die an der Macht sind. Außerdem umgekehrt zu gucken, von unten nach oben, mit den Gräsern auf Augenhöhe. Dabei gar nichts Besonderes sein wollen oder müssen. Nein, nur unsere Zugehörigkeit mit tendenziell eher materiell (gilt aber längst nicht immer!) ärmeren Wesen deutlich bekunden.
In den Lagern in Griechenland. Aus den Mündern der stockend erzählenden bosnischen jungen (!) Kriegskinder. Auf dem Meer mit Fischern vor Lampedusa, auf dem Friedhof, auf dem Campingplatz und an der Kirche. In Süditalien und Sizilien von den Bestattern und Besitzern kleiner Läden und Bars. In Auschwitz-Birkenau von den Museumsführern, den nicht enden wollenden Listen Ermordeter, aus Erzählungen und Tränen trauernder jüdischer Teilnehmer und Teilnehmerinnen. In den Containerunterkünften in Bonn. Den Wohnungslosen auf den Straßen-Retreats in Bonn und Paris. In den Schlangen, wo man für Essen, Trinken und Toiletten anstand. Öffneten sich die Poren unserer Seelen und unserer Körper, die mit Angst, Scham, Lügen, Trauer und nie eingestandener Liebe verstopft waren. Es waren unsere eigenen Geschichten, nie waren wir froher als zuzuhören, damit die Taubheit, die moralische und seelische Gefühllosigkeit endlich aufweichen konnte. Immer hatten sie dazugehört und wir zu ihnen. Wie hatte das nur passieren können, dass einer den anderen abschlachtete – mit der Waffe, der Drohne, durch Gas oder durch Missachtung und Überheblichkeit.
Menschsein ist immer Menschwerden: hier, dort, überall.