Ich kenne selbstverwirklichte Menschen, die Meisterinnen oder Meister genannt werden, oder Lehrer oder Priesterinnen, die unverhohlen abfällig über Therapie sprechen.

Dann erinnere ich mich besonders an einen, Eckart Tolle, der geschrieben und gesagt hat, die Frage, ob es für die eigene spirituelle Entwicklung günstig sei, wenn man vorher eine Therapie gemacht habe, könne er noch nicht beantworten. Was ich sehr aufrichtig und bescheiden finde. Dann wieder gibt es Menschen, die beides gemacht haben und miteinander verschränken, wenn es sich anbietet, weil sie in beiden Disziplinen ausgebildet sind.

Wir kennen auch Therapeutinnen, die so weise waren oder sind, dass ihre Heilkunst stets über das Entweder-oder hinausging. Ich selber hatte einen „Haupt“-Therapeuten, der mich sozusagen initiiert hat, der allem Religiösen oder Spirituellen skeptisch gegenüberstand (er war kein Freudianer!), der aber Räume imstande war zu halten, die mich definitiv in die Weite und Tiefe geführt haben. Ebenso wie man oder frau den einen oder anderen Seelsorger kennt oder kannte – Seelsorger*in im weitesten Sinne –, der oder die wahrscheinlich selber therapieerfahren war, so gezielt und gut waren die Interventionen auf der Ebene, wo therapeutisches Hinschauen, Hinfühlen angebracht waren. Mir ist eine hochrangige Zen-Priesterin und Äbtissin bekannt, die nicht selten bei öffentlichen Aussprachen jemandem sehr liebenswürdig empfahl, eine Therapie zu machen. Das ist so wichtig und ermutigend, wie es weise und verantwortlich ist.
Selbstüberschätzung ist bei spirituellen Lehrern und Lehrerinnen, die meist keine oder kaum Erfahrung mit Therapie und Traumaarbeit haben, verbreitet. Vorurteile kursieren, nach denen das Ego nur künstlich gestärkt würde, alte Geschichten und damit die Vergangenheit, die ja eigentlich losgelassen werden soll, wieder aufgeblasen, Abhängigkeiten gefördert würden. Ich finde das unverantwortlich, zumal man selber als Meditationsleiterin oder spiritueller Leiter in schwierige Situationen geraten kann, die alte Wunden berühren und Überlebensmuster aktivieren. Der Wert allein schon der therapeutischen Beziehung wird nicht oder zu wenig geschätzt, denn sie ist es, weniger die Methode und Schule, die trägt, verbindet, heilt.

Eine wahrhaft aufgeschlossene, offene, zugewandte und gut ausgebildete Person an der Seite zu haben, um eine schmerzhafte Lebensphase durchzustehen oder um einem Muster nachzugehen, das einen z. B. in diverse Süchte treibt … – solches tiefe Hinschauen braucht eine andere Art von Zuhören, Fragen, Begleiten als das spirituelle Gespräch. Traumata sollten grundsätzlich in die Hände von Fachleuten gelegt werden. Sie werden gut bezahlt und tun alles, um die aufwendige, regelmäßige, wöchentliche Behandlung gewährleisten zu können.

Gute Therapeutinnen können erkennen, ob religiöse Aktivitäten für ihre Patienten eventuell günstig wären. Manchmal werden die Patientinnen von ganz alleine in einen Ashram, Tempel, in eine Kirche oder aus ihr heraus, zu bestimmten Büchern oder zu einer Praxis(übung) geführt. Ich habe alles drei erlebt: Therapie ohne aktive, disziplinierte Spiritualität, aktive Religiosität in einer Krise und ohne therapeutische Begleitung, beides zur selben Zeit bzw. einander überschneidend.
Ich habe auch erlebt, wegen beunruhigender Erfahrungen, die nicht thematisiert werden konnten, therapeutische Hilfe zu suchen, die ich dann auch erhalten habe.
In beiden Fällen hat die Beziehung zu der Person, die die spirituelle Leitung innehatte, nicht gehalten. Diese Erfahrung kann so gedeutet werden: Wo nicht fast alles angstfrei (oder relativ angstfrei) ausgesprochen werden kann, ist man nicht gut aufgehoben. Es muss möglich sein, Befürchtungen und Kritik zu äußern, in einem sicher gehaltenen Raum. Wie es möglich sein muss, erfolgreich um Hilfe zu bitten.

Was nicht heißt, dass wir nicht manchen schmerzhaften oder sogar sehr schmerzhaften Erkenntnisschritt machen werden, und zwar sowohl in einer Therapie wie in einer Sangha/Community. Schmerzen zu halten, auszuhalten und ein höheres Maß von Frustrationstoleranz und Flexibilität zu entwickeln, das fordern beide Heilungswege. Wer überangepasst ist, lernt, Risiken einzugehen. Wer süchtig nach Risiko ist, übt „Langeweile“. Die Psychoanalyse hat nie Sicherheit versprochen, allerdings ein wenig zu stark das Mysterium und Kunsttherapie, reife Religiosität verworfen. Das war nach Hitlers, Lenins und Stalins Absolutheitsansprüchen mit teilweise psychotischen wahngesteuerten Handlungen vielleicht auch das Angemessene. Doch eine Annäherung und Versöhnung beider Wege würde den Menschen „ganzer“ machen und ihn vor dem Machbarkeitswahn im Therapeutischen schützen. Allerdings wäre dazu die Voraussetzung, dass Therapeuten sich stärker für Machtmissbrauch in allen, auch eigenen, Institutionen interessieren, in Schule, Kirche, bei der Polizei usw. und der Gesellschaft helfen, Eigenwohl, Gemeinwohl und Weltwohl gesund miteinander zu verbinden.
Ob wir struktureller Gewalt mit vereinten Kräften wirksamer begegnen werden? Ich glaube, ja. Jedoch nur, wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen wirklich zuhören, ihre Erfahrungen und tiefsten Wünsche für ihre Zukunft endlich ernst nehmen.