Bernie Glassman und Zenpeacemakers/Der tiefe Sinn des Erbettelns von Malas/Straßen-Retreats

2007 muss ich von Zenpeacemakern gehört haben, wahrscheinlich über den Dharma-Lehrer Werner Heidenreich, der von einem Treffen in Deutschland, vielleicht in Solingen, berichtete.  Ich erinnere, dass ich fasziniert war, etwas Ähnliches hatte ich noch nie gehört. Es ging unter Anderem auch um aufzubringende Spenden, die TeilnehmerInnen als „Mala“, als Gebetskette, zu den entsprechenden „Zeugnis-ablegen-Retreats“, mitbringen würden. Das war ein ordentliches Sümmchen, über das ich las: Auch für Straßen-Retreats hatte man Bettelgänge – dies ist in äußerstem Respekt gesagt – zu machen, weil Bernie von seinen Adepten forderte, dass diese anerzogene Scham und Schüchternheit, über unsere spirituell tiefsten Wünsche, Praktiken zu sprechen, ablegen sollten und so auch andere inspirieren könnten.

Es hatte allerdings dann noch ein paar Jahre gedauert, bis ich zum ersten Mal in Auschwitz bei einem dieser Großgruppen-Retreats auftauchte – für fast alle Retreats und Sesshins in Seattle bat ich um Perlen! – und dann noch weitere sechs oder sieben Jahre, bis ich tatsächlich Perlen (für jeden gespendeten Geldbetrag eine Perle), für mein erstes Straßen-Retreat erbetteln würde.

Warum kommt mir Bernie gerade öfter in den Sinn? Zum Einen naht November, der Monat mit den Hohen Trauer-Feiertagen, der Monat mit dem jährlichen Auschwitz-Retreat. Ich habe an fünf mit dem Zenmeister zusammen teilgenommen, und mein letztes mit ihm, nicht unter seiner Leitung, war 2015 in den Black Hills, in Süd-Dakota: Das Native-American-Black-Hills-Bearing Witness-Retreat. Dieses außerordentliche Retreat wurde von einem Lakota-Elder namens Tiokasin Ghosthorse und seinem Team geleitet, den ich in den Jahren zuvor zweimal in Auschwitz erlebt habe, als Teilnehmer wie ich. Wir saßen morgens in demselben Council (Herzkreis-Gespräch), und ich hörte seine Beiträge sowie sein hervorragendes Flötenspiel mit hoher Aufmerksamkeit…Inzwischen ist unser Zen Peacemaker-Order Gründer, Lehrer, Großvater leider gestorben: Im November, just während des Auschwitz-Retreats 2018. So stark war Bernie mit diesem Langzeitprojekt in Europa verbunden. Unzählige Seelen werden ihm und seiner zweiten Frau Sandra Holmes und seiner dritten Frau Eve Marko, beide auch Zen-Meisterinnen, und seinen spirituellen Gefährtinnen und Gefährten dankbar sein. Wie ich auch, wie so viele.

Wenn wir uns dann bei den Straßen-Retreats mit Michel Dubois im ersten Kreisgespräch zusammenfanden, sprachen die meisten auch über „die Freuden und Leiden“ beim Zusammenbetteln ihrer Mala. Ganz grob kann ich schon einmal sagen: Man verlor Freunde und gewann neue auf diesem Weg. Eine bittere und süße Erfahrung, für alle übrigens, auch für jüdische Freunde. Ich dachte anfangs, es sei typisch Deutsch, die Augen – innerlich oder auch äußerlich – zu verdrehen, wenn sie von weiteren Spendenanliegen für den Schandort der Deutschen Familiengeschichte, Auschwitz,  hörten. „Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit Auschwitz-Gedenken“ sagten vor allem diejenigen, die nie seiner gedachten. Dann geht es noch mit den Wohnungslosen weiter, die doch irgendwo selber dran schuld waren, wenn sie nicht aus dem Quark kamen. Gibt es außerdem nicht genügend andere Arme in Deutschland, um die man sich kümmern könnte? Auf jeden Fall gibt es die! Zeig‘ mit Dein Projekt, für das Du brennst, und ich unterstütze es. Aha, so war es auch nicht gemeint, so konkret. Bernie aber meinte es immer konkret, auch Zen sollte konkret werden. Wesen retten, sie befreien, konnte so konkret und praktisch sein!

Derjenige oder diejenige, die das Straßen-Retreat organisierte, erkundigte vorher – zumindest grob – die Route, die Plätze, an denen man übernachten könnte, und nahm Kontakt auf mit Hilfsorganisationen auf dem Weg/im Quartier/in der Stadt. Du solltest wissen, wo die Märkte stattfinden, wo Du Obst und Gemüse vom Boden aufsammeln kannst und darfst; wo Wohnungslosen, Illegalen geholfen wird, wo die Gruppe auf einen Tee, eine Mahlzeit, ein Gespräch oder sogar eine Dusche vorbeikommen könnte. Du lernst dabei UND von ganz unten, nämlich von der Straße her, Deinen Wohnort völlig neu kennen.

Ich komme zur Mala zurück. Jeweils im letzten Kreisgespräch eines Straßen-Retreats wird darüber abgestimmt, welcher Hilfsorganisation die Gruppe das erbettelte Geld übergeben möchte. Manchmal wird es auch auf zwei Organisationen aufgeteilt. Kollegiale Freundschaften werden geschlossen oder festigen sich. Man unterstützt einander. In Paris dürfen zum Beispiel keine Lebensmittel mehr weggeworfen werden. Ich erinnere dies wichtige Thema noch von vor einigen Jahren, da hatten meine Freunde in Paris vom Dana-Venter und von Zen-Voie-du-Coeur für diese Regelung gekämpft und Transporte organisiert, wie Lebensmittel von hier nach dort zum Weitergeben oder Weiterverarbeiten gebracht werden könnten. Unzählige Arme und Hände hatten dazu geführt, dass in Indras Netz nicht nur die Freundinnen und Freunde eingebunden waren, die für unsere Gebetsketten gespendet hatten, sondern auch alle, denen wir auf der Straße begegneten, sowie unsere und deren Helfer und Freunde.

Wie ist das gemeint?

Bernie‘s Idee mit der Spenden-Mala ist einfach genial. Ihm war immer daran gelegen, dass wir uns bewusst machten, dass wir nie alleine sind und auch nie alleine agieren. Was wir für unseren kleinen Kreis zu Hause machten, der vielleicht die Zenpeacemaker-Gelöbnisse praktizierte, gemeinsam reflektierte und Aktionen plante, würde Auswirkungen auf jede:n einzelne:n Teilnehmer:in an so einem Kreis haben. Denn diese Teilnehmerin würde ja das, was sie inspirierte, weiter erzählen. Wenn wir nun Spenden sammelten, würden wir ja auch die Flamme unseres Engagements weiter tragen. Wir erzählen den Spendern, dass wir die Kette während unseres Retreats immer tragen würden, dass diese uns Trost und Verbindung schenkte. Manche sind sehr berührt, wenn sie das hören, und bitten darum, informiert zu werden von den Tagen auf der Straße. Diese erzählen es ja auch weiter!

Aber es gibt noch etwas, etwas mindestens gleich Tiefes. Viele von uns haben eine tief sitzende Scheu, gerade bei diesem Thema „Straßen-Retreat“. Es ist nicht nur das Naheliegende: Man fürchtet sich vor den Unbequemlichkeiten, der mangelnden Hygiene, den Nächten – man kann es sich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht vorstellen! Es ist jenseits jeder Vorstellung. Wir haben auch eine berechtigte Scheu und Scham, es ihnen gleich zu tun. Als würden wir uns billig anbiedern, so tun, als teilten wir ihr Leben, aber in Wahrheit können wir jederzeit zum Haus des Veranstalters gehen, duschen, essen, uns ins Bett legen und gemütlich unser Leben fortsetzen.

Ich sage Ihnen: nicht davon ist wahr. Das sind alles Argumente, mit denen wir uns vor der Erfahrung und tiefen Verbundenheit schützen. Die Richtlinien, die die Zenpeacemaker aufgestellt haben, entspringen lebendiger Erfahrung und stiften maximale *Erfahrung *Verbindung *Vertrauen

*Erfahrung – Wenig denken/Eins werden mit der Straße/Hintertürchen bemerken

Du darfst nur mitnehmen, was Du am Leib trägst. Deshalb haben einige dickere Regenschutzmäntel umgebunden, auf denen man auch schlafen oder sich damit zudecken kann, einen breitkrempigen Hut, bequemste Schuhe, mehrere Schichten ausrangierter Kleidung. Eine Plastiktüte mit Decke oder Schlafsack ist erlaubt. Medizin, evtl. eine Unterhose.

KEIN Handy, kein Geld. Evtl. Personalausweis, das erinnere ich nicht.

Niemand fährt zwischendurch „nach Hause“.

Diese Regeln sorgen für maximale Erfahrung, Gruppenstabilität.

*Verbindung – Wie nähern wir uns den Bewohnern der Straße?

Das findet jedeR für sich selber heraus. Das gesammelte Geld wird „der Straße zurückgegeben“. Dieses Argument wurde immer sehr interessiert zur Kenntnis genommen: Von Wohnungslosen selber, die nach unseren Beweggründen fragten, wenn wir ihnen von unserem Vorhaben berichteten. Von interessierten Passanten, bei denen wir Geld für Kaffee o.ä. erbettelten. Man unterstellte uns sonst zu leicht, dass wir uns überwiegend narzisstische Bedürfnisse erfüllen wollten. Natürlich ist solche Skepsis angebracht, ich finde es angebracht, zu spüren, dass wir auch ein eigenes Bedürfnis oder mehrere mit dieser Praxis nähren. Diese Sicht – ich sprach stets von einem „sozialen Experiment“ – gefiel auch den Obdachlosen selber, jedoch begegneten sie uns, und zwar alle, weitaus offener, erfreuter, großzügiger, als man es sich vorher vorstellen kann. Sie kommen gar nicht auf solche misstrauischen Gedanken. Warum? Meine Mutmaßung ist: Weil sie WISSEN: Es ist total selten, dass sich Habende freiwillig auf eine Stufe mit Habenichtsen stellen, es ist ein anderes, sehr hartes Leben, das Schönheiten bereithält, die sich nur denjenigen erschließen, die es wagen. Zwei ganze Tage reichen schon, sogar ein Tag ohne Geld, Schirm, Handy, Buch…sicherlich hat man irgendwann Hunger bekommen oder Durst, und dann wird es interessant. Hast Du schon einmal in Deiner Stadt um Essen gebettelt? Mir kommt gerade alle wieder hoch, wie es in Bonn war. Du hast alle Zeit der Welt. Schaust ganz anders, siehst offenbar anders aus. Du sitzt ja nicht in einem Café. Das ist sehr spannend. Welche Toiletten suchst Du auf? Gehst Du zu Hilfsorganisationen? Wo ist nochmal die Suppenküche, die Tafel?

Ich habe einmal das erbettelte Geld mit einem Mann mit Hund in der Remigiusstraße geteilt. Er war extrem glücklich. Die Leute lieben es, dass Du Dich überhaupt für sie, für ihr Leben interessierst, dass Du auf Bequemlichkeit verzichtest, IHRETWEGEN. DAS ist für mich, für sie wahre Solidarität: Wir müssen schon irgendwas opfern, ohne Opfergesicht, das Weggebene kehrt vielfach zurück.

Verbindung entsteht mit der Straße und ihren Bewohnern.

*Vertrauen – Vertrauen wächst zu allen Seiten.

Du wirst langsam zum Habenichts. An Wissen. Weisheit. Notwendigem. Du hast die Gefährtinnen und Gefährten bei Dir. Den, der Nachts Wache hält, damit Du unbesorgt schlafen oder das Toilettenhäuschen im Stockdunklen aufsuchen kannst, an alten Gleisen nahe der Kreuzung. Mit der einen Gefährtin hast Du in der Straße mit den teuren Boutiquen gesessen und gebettelt. WAS für eine Freude, wenn es am Ende genug Geld war, um allen eine Freude zu machen, einen Kaffee zu spendieren. Mit dem anderen Freund hast Du fast unter dem Marktstand „gelegen“, um herabgefallene Tomaten aufzusammeln, noch essbare Erdbeeren aus einem Berg aus Kartons herausfischtest. Jemand sah uns und winkte uns zu sich: Voila, sagte er lächelnd, und reichte ein Baguette herüber.

Das erste Frühstück im Park am Brunnen war ein Geschenk, ich werde es nie vergessen. Und ja, das Aufwachen am Morgen – herrlich. Du bist einfach von dem Lager aus Pappe aufgestanden, hast erstaunt nach den Freunden geschaut, Deine Plastiktüte genommen und die „Pinkelstation“ aufgesucht. In Paris ist es ein Paradies, verglichen mit Deutschland, was einem da an Toilettenhäuschen geboten wird. Diese selbstreinigenden, grauen, geräumigen Häuschen und die öffentlichen Brunnen machen zusammen mit der Tatsache, dass niemand sich aufregt, wenn Wohnungslose ohne Fahrkarte im Bus sitzen, das Leben vergleichsweise angenehmer. Natürlich wurden wir auch findig, was Naturtoiletten anging, und irgendjemand hatte Klopapier oder Papiertaschentücher ergattert. Im noch taubenetzten Gras durch den Park zu laufen, und nach einem Platz für den ersten Herzkreis zu suchen – gab es Sinnvolleres? Ich sehe noch wie heute, wie Roshi sich den Rücken rieb und etwas sehr schnell auf Französisch erzählte, worauf alle in brüllendes Lachen ausbrachen. Ich gewöhnte mich daran, Vieles nicht mitzubekommen. Natürlich besserte ich mein Französisch auf, jedoch lernte ich nie, schnellem Umgangsfranzösisch zu folgen.

Die Lebens-Bedingungen für Wohnungslose, wie oben beschrieben (Toiletten, Wasser, flächendeckende Versorgung mit Essensausgaben wie „Restaurant du Coeur“: Dieses täglich Mittags geöffnete Projekt, in dem gesundes Essen ausgeteilt wurde) waren zusätzliche Gründe dafür, dass Flüchtlinge, die über Lampedusa erst nach Deutschland gekommen waren, von hier nach Paris weitergezogen waren. Ich sage „zusätzlich“, weil die Asylgesetze natürlich auch eine große Rolle, wenn nicht die größte, spielten. Mit zwei dieser Flüchtlingen, mit denen ich mich nicht nur über den Hotspot auf Lampedusa unterhalten konnte, teilte ich kostbare Zeit während des zweiten Paris-Retreats, während wir auf die Öffnung des langen Tisches, auf dem gleich Frühstück angeboten würde, warteten. Doch auch über dieses bewegende Gespräch werde ich in einem Extra-Beitrag zum Thema ausführlicher berichten.

Ein letzter Punkt ist mir gestern noch wichtig geworden. Irgendjemand hatte davon gesprochen, wie wichtig es für unser Mensch-Sein sei, eigene Bedürftigkeit anzuerkennen und zu äußern. Es sei, so sagte der Redner, viel schwieriger, um Hilfe zu bitten, zu „betteln“, als zu geben. Ich ergänze: Das liegt daran, dass wir uns als mächtig, als „Habende“ erleben. Abgesehen davon, dass der bittende Mensch auch eine gebender ist, aber vielleicht subtiler, möchte ich in diesem Kontext zustimmen. Bernie hatte diesen Punkt nämlich auch immer wieder erwähnt. Wenn wir spirituell wachsen und mit so vielen Menschen wir möglich in Begegnungen gehen wollen, ist es wichtig, diese Position auch zu üben. Menschen, die gewöhnt waren, stets genügend materielle Mittel zur Verfügung zu haben, fanden diese Übung besonders schwierig. Diese durften zum Beispiel lernen, über ihre Scheu und Scham zu sprechen, oder kreativ zu sein und für einen Freund zu betteln oder ein Projekt. Oder: Einfach das Mehrfache an die Hilfsorganisation „auf der Straße“ zu spenden.

Wir erkannten alle, wie begrenzt wir denken und fühlen, wie abfällig und voller Vorurteile wir über Menschen denken, sprechen, mit denen wir nie ein ehrliches Wort gewechselt haben.

Ich komme für heute zum Schluss: Ich kann wieder schreiben. Bin im Fluss. Die vielen Texte, die in mir wie gestapelt sind: Nach und nach und großzügig gebe ich ihnen Raum. Und die Schreibblockade schmilzt.