Dieser wunderbare Text von Jonas Hackethal, geschrieben aus einem Abstand von 7 Jahren über unsere Pilgerfahrten nach Griechenland/Piräus, zu einem Flüchtlingslager: Lass‘ ihn Dir nicht entgehen! Nach 9 Jahren Abstand haben wir uns vorgestern wieder gesehen. Ich habe Jonas zu seinem sehr gut bestandenen Geographie-Studium zum Essen nach Poppelsdorf eingeladen. Nun sind wir Freunde und werden im Herbst mindestens eine Lesung machen. Auch eine Auschwitz-Lesung habe ich vor und eine gemischte mit allen, die mit mir eine Pilgerreise gemacht haben: Nach Lampedusa, Sizilien, Bosnien, Piräus, Auschwitz. Einzelne Pilger-Tage hat es übrigens auch gegeben.
Wer Lust hat, in unserem bunten Trüppchen mitzumachen, ist herzlichst eingeladen.
Eine Übersetzung ins Englische und auch ins Arabische ist in Arbeit. Sie wird dann hier im Blog zu finden sein.
Piräus
Zu Beginn des Sommers 2016 bin ich mit meiner Mutter nach Bonn gezogen, ich hatte gerade mein Abitur geschafft und wusste noch nicht wohin mit mir. Entsprechend flossen die Tage einer nach dem anderen ineinander über, ich hatte keine Arbeit, keinerlei Verpflichtungen und verbrachte meine Zeit daheim am PC oder unterwegs mit meinen Freunden, von denen sich viele ebenfalls in der gleichen Schwerelosigkeit befanden. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, dass ich in Griechenland gelandet bin. Irgendwann erzählte mir meine Mutter von einer ihrer Freundinnen, die vorhatte, sich mit einer Gruppe Buddhisten in Griechenland zu treffen, um in einem Flüchtlingscamp im Hafen von Athen zu helfen oder so. Die Freundin hieß Monika und suchte jemanden, der sie begleiten würde. Ich beschloss, auf die Frage, ob ich mitkommen würde, mit “Ja” zu antworten. Es gab mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Von der damals stattfindenden “Flüchtlingskrise” hatte ich natürlich auch was mitbekommen, ständig wurde in den Medien über Menschen berichtet, die sich aus der Region um Syrien in Richtung Europa aufmachten, um dem Krieg zu entkommen. Von der politischen Lage hatte ich relativ wenig Ahnung, was sich bis heute nicht geändert hat. Ich mag es nicht, meine Realität auf Basis der medialen Informationen aufzubauen. Dadurch werde ich abhängig von dem, was mir wissentlich oder unwissentlich erzählt oder auch verschwiegen wird. Aus diesem unvollständigen Mosaik kann und will ich mir keine Meinung bilden, wozu auch? Fakt war, dass Menschen ihre Heimat zurückließen, weil sie dort nicht mehr in Sicherheit leben konnten und in der Hoffnung auf ein besseres Leben bereit waren, große Risiken in Kauf zu nehmen. Europa und speziell Deutschland waren dabei häufig das Ziel der Flüchtenden, da die Hoffnung auf Sicherheit und gute Lebensbedingungen lockte.
Ich stellte bewusst keinerlei Erwartungen an das, was auf mich zukommen würde und ließ mich einfach auf die Erfahrung ein. Ich weiß noch, wie wir spät abends in Athen am Flughafen ankamen. Wir waren müde und suchten in der Dunkelheit den richtigen Bus, um zu unserem Hotel zu gelangen, in dem wir die erste Nacht verbringen würden. Die Busfahrt war wie ein Traum, alles erschien fremd, unwirklich und leer in der von Straßenlaternen orange beleuchteten Nacht. Unser Zimmer war befremdlich, es lag an einem großen Lüftungsschacht, der mitten durch das Gebäude führte und durch das einzige Fenster im Raum einsehbar war. Nach einer warmen Nacht machten wir uns am nächsten Tag auf den Weg zu unserer Unterkunft für den restlichen Aufenthalt. Diese lag in Piräus, der Hafenregion von Athen. Hier hatte Petra, die Organisatorin des Ganzen, eine kleine Wohnung gemietet, in der die Freiwilligen Helfer unserer Gruppe unterkommen konnten. Da Monika mit Technik nicht viel am Hut hatte und (bis heute) schnell damit überfordert ist, übernahm ich die Navigation zur Wohnung. Damals hatte ich noch keinen Abschluss in Geographie, vielleicht habe ich uns deswegen zuerst in die falsche Richtung gelotst. Es war auf jeden Fall verdammt heiß und der Umweg war anstrengend, da wir unser Gepäck mit uns herumschleppen mussten. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass Monika schon um die 60 Jahre alt war, aber quengelte wie ein Kind. An Stelle von einem Eis wollte sie aber ein Taxi. Ich nahm ihr einen ihrer Rucksäcke ab und wir schafften es letztendlich doch zu Fuß bis zur Wohnung. Hier lernten wir auch die restlichen Leute der Gruppekennen, die sich Peacemakers nennen.
Petra war schon seit Wochen oder Monaten da. Außerdem war da noch eine Amerikanerin, mit der ich mich gut verstand und an der ich begeistert meine Englischkenntnisse testete. Über den Verlauf der 10 Tage, die wir dort waren, kamen noch weitere Personen hinzu und die Amerikanerin reiste nach einigen Tagen ab. Was mir als Neuankömmling recht schnell auffiel, war die Erschöpfung der beiden. Sie wirkten müde und abgeschlagen, was ich in den kommenden Tagen mehr und mehr nachvollziehen konnte. Am nächsten Morgen gingen wir alle gemeinsam zum Camp im Hafen, das etwa eine Dreiviertelstunde Fußweg entfernt lag. Der im Sommer staubige und trockene Stadtteil von Athen, in dem sich unsere Wohnung befand, war nicht besonders schön, aber in unmittelbarer Nähe vom Hafen war dennoch viel los, da hier Kreuzfahrtschiffe und Fähren abfuhren. Die letzte Viertelstunde des Weges verlief direkt durch den Hafen, entlang der großen Schiffe und des Wassers. Hier war es besonders heiß, da keine Gebäude Schatten spendeten und die Sonne auf die großen, dunklen Asphaltflächen knallte. Ich weiß nicht mehr, wie ich mir das Camp im Vorhinein vorgestellt hatte, aber es entsprach auf jeden Fall nicht dem, was ich dort im Hafen zwischen Beton und Wasser unter freiem Himmel vorfand. Das Camp lag zwischen einem riesigen Schiff, das links im Wasser lag, und rechts einer höher gelegenen Schnellstraße oder Autobahn, die tag und nacht befahren war. Als Anhaltepunkt für das Ende des Weges würde mir in der folgenden Woche ein großes, leerstehend wirkendes braunes Hafengebäude dienen, das mit Graffiti in Form von einem großen Kraken bemalt war.
Nachdem wir auf eine Gruppe von Polizisten stießen, die unsere Ausweise kontrollierten, waren wir auch schon im Camp. Dieses bestand aus einer Art mittelgroßen Lagerhalle, hinter dem sich ein paar Dixi-Klos befanden. Links und vor der Lagerhalle war eine freie Fläche, hier spielten Kinder. Rechts waren jede Menge Zelte, welche das Gebäude in Richtung Straße säumten. Es gab einen großen Knotenpunkt, an dem sich viele grün-graue Zelte befanden, aber weitere standen etwas abseits, in kleineren Gruppen verteilt. Eines aber hatten alle Zelte gemeinsam: Sie standen direkt auf dem Asphalt, mit dünnen Decken gepolstert. Schatten gab es kaum, außer unter der Autobahn und direkt in der Lagerhalle. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Zahl der Personen, die in dem Camp waren, aber es waren wahrscheinlich ca. 200-300 Menschen. Einige Personen liefen mit gelben Sicherheitswesten herum, wodurch ihre Zugehörigkeit zu diversen Hilfsorganisationen bekundet wurde.
Die beiden Frauen, die schon länger da waren, erklärten uns kurz, was sich wo befindet und machten sich dann auf in das Zeltgewusel. Monika beschloss ebenfalls, einfach loszugehen und sich ins Getümmel zu stürzen. Ich wusste nicht, was ich machen soll, deswegen ging ich zunächst zum Lagerhaus und beschloss, mich dort nützlich zu machen. Das Gebäude war in zwei Hallen unterteilt, in dem einen Bereich wohnten Menschen und es gab Sanitäranlagen in miserablem Zustand. In dem anderen Bereich wurden diverse Dinge gelagert und jeden Tag eine warme Mahlzeit gekocht, das Geld für das Essen kam, glaube ich, aus Spenden. Der Eingang zum Lager und der behelfsmäßigen Küche war durch ein Wellblech verengt, wurde bewacht und war immer von Kindern belagert. Hier gingen größtenteils die freiwilligen Helfer ein und aus, aber auch ein paar Geflüchtete halfen täglich mit und wurden reingelassen. Wie mir später jemand erzählte, wurde der Eingang bewacht, da es hin und wieder Diebstähle gab. Die Küche bestand aus einigen aneinander gestellten Tischen, auf denen Helfer wie ich Gemüse und anderes schnitten, welches dann weiterverarbeitet wurde. Koordiniert wurde das ganze von zwei Köchen, jungen Männern um die 30. Sie dirigierten zahlreiche Leute aus diversen Ländern und unterschiedlichen Alters in dem Raum, die jeden Tag halfen, das Essen zuzubereiten. Ich weiß nicht, wer das ganze organisierte, wo das Essen herkam und das Equipment, aber irgendwie funktionierte es.
Gegen vormittag begannen wir, während wir uns unterhielten, im dämmrigen Licht der relativ kühlen Lagerhalle Unmengen an Zwiebeln, Tomaten, Zucchini, Gurken und weiteres mit stumpfen kleinen Küchenmessern zu schneiden. Einige der Helfer waren schon länger dort, was daran zu erkennen war, dass sie andere bei Namen nannten, sowohl andere Helfer als auch Flüchtlinge. Es herrschte immer eine gute, betriebsame Stimmung, wie in einem Bienennest. Jeder machte was gerade zu tun war, griff dort unter die Arme, wo es benötigt wurde und trug dazu bei, das Essen bis mittags auf den Tisch zu bringen. Nach 3-4 Stunden wurde das Essen dann in Kunststoffbehälter abgefüllt, ähnlich als würde man sich eine Pommes to-go holen. Dann wurde das Essen von der Ladefläche eines Autos verteilt. Hier kam ich zum ersten mal mehr mit der Realität der Geflüchteten in Kontakt. Nach der guten Stimmung in der Küche war ich von dem Gedränge und den lauten Rufen der Menschen überrascht, die auf das Essen warteten. Einige Helfer und Geflüchtete versuchten, die hungrige Masse in einer Warteschlange zu organisieren, um Ordnung zu halten. Das gelang nur durch die Präsenz einiger kräftiger junger Männer, die sich auch körperlich durchsetzen konnten. Was ich den restlichen Tag gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Ich klebte an den anderen Helfern, da ich nicht wusste, was ich tun sollte. So ging es für ein paar Tage, mittags half ich ein paar Stunden in der Küche, dann beobachtete ich, unterhielt mich mit anderen Helfern und Geflüchteten, die Englisch sprechen konnten und machte mich nützlich, wo ich konnte. Monika kam immer wieder umringt von Kindern oder mit Frauen vorbei und hatte ihre eigene Aufgabe gefunden: Kontakt mit den Menschen aufnehmen und ihnen ein Ohr leihen. Ich selber war mir zu Unsicher, um alleine aktiv Kontakt aufzunehmen. Ich wusste nicht, wie ich auf die Geflüchteten zugehen sollte, ihnen helfen sollte, hatte Angst die falschen Fragen zu stellen oder zu sensible Themen anzusprechen. Darum blieb ich vorerst in der Küche, hier wusste ich, wie ich helfen konnte und war auf eine gewisse Art und Weise stolz darauf, etwas zu tun, dem ich große Wichtigkeit zuschrieb: dabei zu helfen, eine Warme Mahlzeit auf den Tisch zu stellen. Nachmittags traf ich mich mit Monika und den anderen beiden aus unserer Peacemaker-Gruppe auf dem freien Platz vor der Lagerhalle und wir gingen gemeinsam heim. Manchmal mit der ganzen Gruppe, manchmal aber auch nur zu zweit oder dritt.
So vergingen die ersten Tage, bis ich nach und nach über meine mitreisenden Kontakt mit einigen Familien aufbaute. Besonders viel Kontakt haben ich und Monika dabei mit einer syrischen Familie gehabt, die einen kleinen Ring aus 3-4 Zelten gebaut hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Personen, aber der Vater, die Mutter, ihre zwei Kinder Nour und Ali sowie ein weiterer Mann sind mir gut in Erinnerung geblieben. Die Mutter hielt sich immer etwas zurück, aber ich glaube Monika hatte einen guten Draht zu ihr. Der Vater hatte immer einen etwas wehleidigen Blick, aber gab sein Bestes als Gastgeber, indem er uns Tee und Shisha anbot, uns mit seinem gebrochenen Deutsch und Englisch unterhielt, oder mit uns Karten spielte. Die Tochter Nour war ein junges pfiffiges Mädchen, das eigentlich in die Schule gehörte, von der sie ständig träumte. Ebenso der Sohn Ali, der mich schnell als Bezugsperson auserkoren hatte und viel Zeit an meiner Seite verbrachte, obwohl wir uns, abgesehen von ein paar Worten, nur mit Händen und Füßen verständigen konnten. Der andere Mann, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, hatte eine körperliche Behinderung, durch die er deutlich jünger aussah als er eigentlich war. Ich weiß noch, wie er mir seinen Ausweis zeigte, als Beweis, dass er schon 30 Jahre alt ist. Vorher wollte ich ihm nicht glauben, dass er älter als 16 ist. Die Beziehung baute sich nach und nach weiter aus, weshalb ich seltener in der Küche war und öfter den Tag bei der Familie verbrachte. Grund dafür war auch folgende Situation: Nach der Essensausgabe aß die Familie zu Mittag, aber der Vater wollte nichts haben und legte sich lieber hin. Auf meine verwunderte Nachfrage hin, warum er nichts essen wollte, antwortete er mir, das Essen tut ihm nicht gut und schmeckt nicht. Erst da wurde mir bewusst, dass wir in der Küche des Lagerhauses kein tolles Essen kochten, auf das sich die Geflüchteten freuten. Es gab fast jeden Tag irgendeine Art Brot oder Teigfladen mit Salat und etwas gebratenem Gemüse, manchmal auch Reis oder Falafel. Ich schämte mich ein wenig dafür, vorher stolz darauf gewesen zu sein, dieses einfache Essen zuzubereiten. Natürlich waren die Geflüchteten froh, etwas zu essen zu bekommen. Aber sie waren auch sehr frustriert mit der Situation und damit, jeden Tag eine leicht abgewandelte Version der gleichen Mahlzeit vor sich zu haben, die oft zu klein war. Vor allem aber hatten sie keine Wahl. Mir fiel es vorerst schwer, mich auf die Familie einzulassen, da ich permanent von Unsicherheiten geplagt war und das Bild von mir als Helfer und ihnen als Geflüchteten nicht aus dem Kopf bekam. Ich erinnere mich daran, wie Petra, die Monika und mich mit der Familie bekannt gemacht hatte, einfach jeden Tag mehrere Stunden bei der Familie verbrachte. Petra saß einfach da und redete mit den Leuten, lachte und war ehrlich in ihrem Umgang mit ihnen. Dadurch merkte ich, was hier eigentlich wichtig war, und zwar nicht, den Menschen Essen zuzubereiten, sondern für sie da zu sein, zuzuhören und ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Das einzige, was hier zählte, war das Zwischenmenschliche. Wir blieben jetzt abends länger im Camp, spielten Karten, unterhielten uns und erzählten uns gegenseitig von den Ländern aus denen wir kamen, sprachen über die Situation im Camp und ich erfuhr viel über ihre Vergangenheit, Hoffnungen und Ängste.
So wie es durch die Dichte der Menschen und dünnen Zeltwände einen Mangel an physischen Barrieren und damit Privatsphäre für die Menschen im Camp gab, bauten sich für mich auch die persönlichen Barrieren zwischen den Menschen ab, mit denen ich Tag um Tag ins Camp ging, sowie mit denen, die ich dort traf. Der Austausch untereinander wurde ehrlicher und herzlicher, obwohl wir uns kaum kannten. Gleichzeitig fühlte ich mich wie die Geflüchteten von äußeren Barrieren umgeben, die verhinderten, dass ich gedanklich woanders sein konnte, als im Flüchtlingscamp und bei den Menschen, die ich dort kennengelernt hatte. Dieses nahm all meine geistigen Kapazitäten in Anspruch, nichts anderes existierte. Der Unterschied war, dass für mich die Barrieren nur in meinem Kopf waren, ich wusste, in einigen Tagen sitze ich wieder im Flugzeug auf dem Weg nach Hause, und zurück in meinem Alltag würden die Barrieren nach und nach bröckeln, bis sie aufhören zu existieren.
Das war den Menschen im Camp nicht gestattet.
Jeden Abend fielen wir nebeneinander in der engen Wohnung auf unsere Isomatten, schliefen vor Hitze und sich drehenden Gedanken schlecht und standen doch am nächsten Morgen auf, schleppten uns erneut ins Camp, noch fertig vom Vortag. Gleichzeitig konnten all die Geflüchteten das Lager nicht verlassen, waren wie gefesselt und versteckten sich tagsüber in ihren Zelten vor der Sonne, um dann nachts zwischen Kreuzfahrtschiffen und Autobahn, nur durch eine dünne Decke vom Asphalt getrennt zu schlafen.
Dennoch kamen wir wieder zusammen, spielten wieder Karten, hörten einander wieder zu, tranken wieder Tee, hatten wieder eine gute gemeinsame Zeit.
Dadurch entstand für uns auch eine gewisse Normalität innerhalb dieses merkwürdigen Ortes, die erst abends in Tausend Scherben zerbrach, wenn wir das Camp verließen und oft stumm nach Hause liefen. Ich weiß noch, wie Monika einmal auf dem Heimweg stolperte und sich ihr Knie aufschlug. Sie blieb einfach sitzen und weinte. Nicht wegen dem körperlichen Schmerz, sondern weil sie einfach keine Kraft mehr hatte. Wir waren geistig und körperlich erschöpft, auf jeden Tag von neuem daran erinnert, wie abstrus die Situation war, in der wir und die Geflüchteten sich befanden. Ich setzte mich zu ihr, wir umarmten uns und sie erzählte mir von Dingen aus ihrem Leben, die sie beschäftigten. Wir tauschten uns viel über die Zeit aus, die wir gemeinsam in Athen verbrachten, unsere Erfahrungen und Eindrücke, gutes wie schlechtes. Aber auch persönlich tauschten wir uns viel aus, denn auch hier wurde das Zwischenmenschliche immer wichtiger.
Eines Abends, es ging gegen Ende unserer Zeit in Athen, spielten wir noch länger Karten und unterhielten uns mit der Familie von Nour und Ali, als jemand von ihnen den Vorschlag machte, Petra und ich könnten doch bei ihnen übernachten. Ich war mir ein wenig unsicher, aber letztendlich beschlossen Petra und ich die Einladung anzunehmen, worüber ich im Nachhinein froh bin. Dadurch habe ich Erfahrungen gemacht, die ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. Als es dunkel wurde, fingen einige Jungs und Männer an, auf der Freien Fläche vor der Lagerhalle Fußball zu spielen, also machten ich und Ali mit. Flankiert von einem gigantischen Schiff und schweißnass, spielten wir in der Dämmerung auf dem Asphalt, bis es zu dunkel wurde. Dabei mussten wir ständig aufpassen, dass der Ball nicht ins Hafenwasser rollte, denn dort hätten wir ihn nicht wieder herausbekommen. Um uns herum waren Kinder und Erwachsene, schauten sich das Ganze an, unterhielten sich und lachten. Es herrschte eine Stimmung, wie ich sie von schönen Sommerabenden kenne, an denen man sich mit Freunden trifft und gemeinsam auf die Nacht wartet, um endlich eine kühle Brise im Gesicht zu spüren. In dem Moment nahm ich es nicht so wahr, da ich einfach nur am Leben im Camp teilnahm, doch im Nachhinein fiel mir auf, dass das Gefühl, was ich mit dieser Situation verbinde, überall hätte zustande kommen können. Darum ist sie für mich von besonderer Bedeutung, sie hat mir gezeigt, dass unabhängig von den Bedingungen überall eine Verbundenheit entstehen kann. Es benötigt nicht viel, in diesem Fall war es nur ein alter Fußball, der uns trotz all unserer Unterschiede in Herkunft, Sprache und Kultur in unserer Menschlichkeit zusammenbrachte und Zuschauende wie Mitspielende für einen Moment ihre Sorgen und Nöte vergessen lassen konnte.
Ich übernachtete gemeinsam mit Ali, der mir den ganzen Abend über nicht von der Seite wich, in einem Zelt. Bevor wir uns hinlegten musste ich noch einmal pinkeln und Ali brachte mich in die Lagerhalle, wo sich die Sanitäranlagen befanden. Ich weiß noch, wie ich müde durch die Halle tappte, in dem vorwiegend Familien mit jungen Kindern schliefen. In den von grellem Neonlicht beleuchteten Toiletten stand der Boden unter einer dünnen Wasserschicht, der Zustand, in dem sich alles befand, war mir unangenehm. Ich beeilte mich und wir gingen zurück zum Zelt. Am nächsten Morgen hätte ich den anderen gerne gesagt, dass ich gut geschlafen habe. Aber der Untergrund war hart, ich schlief nur durch zwei dünne Decken vom Asphalt getrennt, und ständig kamen aus irgendeiner Ecke des Camps laute Rufe, ein Schnarchen oder sonstige Geräusche. Ich musste niemandem etwas vormachen, jeder wusste, dass ich schlecht geschlafen hatte und genauso wusste ich jetzt auch, dass hier niemand gut schlief. Im Gegensatz zu mir hatten die Menschen um mich herum nicht nur die Geräusche, Hitze und unbequeme Schlafplätze, die sie wach hielten. Sie trugen auch noch Erinnerungen und Traumata vom Krieg und der Flucht mit sich herum, hatten Sorgen um Angehörige und ihre eigene Zukunft und dabei keinerlei Möglichkeiten, Einfluss auf ihre Situation zu nehmen. Ich kann mir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie schlecht sie jede Nacht schliefen. Ihre Vorräte an Tee und Essen wurden am nächsten Morgen trotzdem wieder mit uns geteilt, die Spielkarten rausgeholt, und ein neuer Tag begann.
Meine Zeit in Athen ist jetzt schon sieben Jahre her, dennoch denke ich immer wieder an Situationen aus diesen langen und doch recht kurzen zehn Tagen zurück, besonders an die, die ich hier geschildert habe. Ich nahm noch einige Jahre an Treffen zwischen Geflüchteten und Studenten teil, die wöchentlich in einem Café stattfanden. Dort lernte ich viele nette Menschen kennen und hatte die Möglichkeit, einige von ihnen auf ihrem Weg zu einem neuen Leben ein wenig zu unterstützen und zu begleiten. Ich hörte auch viele weitere Geschichten, über schwere Fluchten und harte Erlebnisse. Mit der Zeit kamen für mich aber neue Dinge auf, wie das Studium und ein Auslandssemester, wodurch diese Begegnungen langsam abnahmen und irgendwann im Sand verliefen. Die Dualität aus schönen Momenten und harter Realität, die einem im Kontakt mit Geflüchteten begegnet, hat mich einerseits nicht losgelassen, andererseits aber auch belastet. Der geistige und zeitliche Abstand zu meinen Erfahrungen mit geflüchteten Menschen tut mir in gewisser Weise gut, da der Kontakt oft mit einem Gefühl der Verpflichtung einherging, den Personen zu helfen, auch wenn ich eigentlich immer weniger Kraft dazu hatte. Dadurch fiel auch eine Last von meinen Schultern, von der ich nicht wusste, dass sie überhaupt da war. Meine Erfahrungen haben mich geprägt und ich bin froh sie gemacht zu haben, auch wenn es oft mit einiger Anstrengung einherging, sie zu machen. Seit Athen gab es hin und wieder Momente, die unter anderem durch die mediale Aufmerksamkeit auf neue Flüchtlingsbewegungen ausgelöst wurden, in denen ich überlegt habe, nochmal eine ähnliche Reise anzutreten. Bisher bin ich diesen Überlegungen noch nicht gefolgt, aber ich denke, irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem ich wieder bereit dazu bin.
Von Monika habe ich erfahren, dass es die Familie, die wir in Piräus kennengelernt haben, nach Deutschland geschafft hat. Nour ist wohl gerade dabei, ihr Abitur zu machen und Ali arbeitet viel, um Geld zu verdienen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.
Jonas Hackethal, Bonn
Piräus Jonas Hackethal 2016