Der regelrechte Boom von Angeboten von Kursen und Trainings in Selbstfürsorge traf bei mir immer auf Unwohlsein. Kümmern wir uns denn nicht schon viel zu sehr um uns selber, und haben nicht Buddha und seine Nachfolger*innen in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten ein ganzes Arsenal an Übungen und Methoden aufgefahren, um uns von dieser Zentrierung auf das umstrittene Selbst wegzubringen? Die Jungianer sprachen vom erlaubten “Höheren Selbst”, während das kleine Selbst dem Ego, das grundsätzlich an sich zuerst denkt, gleichgesetzt wurde. Das kann es nicht sein, fand ich und wunderte mich. Ging es nicht vielmehr um den Körper und dessen Bedürfnisse, von denen wir Sitzenden, Praktizierenden möglicherweise abgeschnitten wurden, anstatt ihn als Dharma-Tor zu begreifen, als unzertrennlich vom und inbegriffen in das, was auf Deutsch “Geist” (Englisch: mind) genannt wird?

Ein verhängnisvoller Dualismus, finde ich, wurde salonfähig. Sozial engagierter, friedenschaffender Buddhismus musste nicht mehr diskutiert und erwogen werden, da die Fürsorge für sich selber eventuell verletzt würde. Auf der anderen Seite fielen mir strenge Zen-Sesshins ein, die in ihrer eher „männlich-patriarchalen“ Ausrichtung diskutiert werden sollten und möglicherweise nach eigenverantwortlicher Fürsorge schrieen.

Ich hörte eine junge Zen Meisterin davon sprechen, dass bei manchen Frauen während monatelanger Praxiszeiten deren Periode ausblieb. Das hatte ich bis dahin nur von Frauen unter Haftbedingungen und anorektischen Frauen gehört. Was war hier falsch gelaufen, was fehlte? Ich war entsetzt, das zu hören, und froh, dass es auf den Tisch kam.

Frauenkörper reagieren äußerst sensibel auf ihre Umgebung, auf Umstände, auf Schwingungen. Frauenkörper sind nicht zu kontrollieren und zu messen, das stört die immer mehr mit Normen und Zahlen hantierende, kriegstüchtige Welt. Wann und wie es zu einer Empfängnis kommt, bleibt Geheimnis; es wird nicht nach Lust oder Willen geboren, sondern nach den Gezeiten des Lebens. Der Milchfluss bei stillenden Müttern kann unter zu harten Bedingungen ausbleiben. Was hat das mit Praxisperioden zu tun? Eine Menge.

Fürsorge bestünde darin, dass man Frauen gestatten und lehren würde, auf sich zu hören, im Bett bzw. Rückzug zu bleiben, so lange sie es brauchen. Gespräche zu Zweit, in Kleingruppen, begrenzt, meditativ, sollten ermutigt werden.

Fürsorge ist hier von Seiten der Sesshin- und Retreat-Leiterinnen und Leiter zu erwarten bzw. zu erbringen. Es sollte möglich sein, dass Frauen mit ihren Kindern telefonieren. Zu begrenzten Zeiten. (Eventuell müssen sie auch mit anderen Schützlingen telefonieren.)

Ich habe Rinzai-Sesshins erlebt, die wie Bootcamps organisiert waren. In ihnen wurde erwartet, dass mann oder frau zur Dokusan-Schlange rannte, ja, buchstäblich rannte. Ich erinnere mich an eine Dharma-Schwester, die mir gegenüber saß, die nicht mehr rennen konnte, sie wurde mehrfach ūberholt. Ich schämte mich zutiefst, diese Szene gesehen zu haben und nicht eingeschritten zu sein. Im Dokusan-Raum habe ich das Erlebnis thematisiert. Ich fühlte mich nicht gehört und wusste, es war ohnehin mein letztes Sesshin dort. Bestimmte Räume (Küche, Toiletten) waren während der Dokusan-Zeig immer abgeschlossen, damit niemand “austrat” oder trank (Ausnahmen waren natürlich möglich, aber ich habe vergessen, wie das vonstatten ging). Bei allen genannten Beispielen muss man fragen: Wo blieben Fürsorgepflicht und Vernunft, Solidarität und Anteilnahme? Ich fühlte mich an Auschwitz erinnert, sagte das, schämte mich dafür.

Was uns fehlt, ist, den Geist von Fürsorge, Empathie, Mitgefühl tief zu erfassen und zu kultivieren. Was ich mir selber nämlich an echter Großzügigkeit und Herzenswärme zukommen lasse, das wird so sehr Teil von mir, dass ich es auch anderen schenken möchte und kann. Das Können ist zwar wichtig, es kann jedoch trainiert werden. Manchmal können wir genau spüren, wie direkt wir ein Wesen zu berühren vermochten, mit unserer “liebevollen Handlung”. Dann empfinden wir tiefes Glück.

Gibt es dann noch einen nennenswerten Unterschied zwischen Selbstfürsorge und Fürsorge für andere Wesen? Nicht, wenn ich behaupte, buddhistisch unterwegs zu sein. Ein Buddhist und Zen-Praktizierende*r würde üben, jedes Tun, jeden Tag zum Beispiel, dem Wohl des Anderen, der Wesen zu widmen, was ja bedeutet, er oder sie ist sich immer des Leidens aller Wesen bewusst und sieht sich nie als getrennt an.

Alle sind wir ein Körper, ein Leib, und dies nicht als Floskel, sondern als Realität! EIN Körper, EIN Geist, ich nähre, wo ich kann, wo ich bin und lasse mich nähren.

Was wir lernen und üben müssen, ist Sich-Kümmern, Sich-berühren-lassen von Leiden anderer, die ich vielleicht nicht mag. Auch dies ist erlernbar. Die Wesen (wir sind immer inklusive) erkennen unsere gute Absicht, unser “Gutes Herz” und verzeihen uns unsere Mängel.

PS: Noch ein paar Sätze zur “falschen” Selbstfürsorge. Früher war es kompliziert, einen Schreibmaschinentext noch zu verändern, einen Einschub zu machen, so, wie ich ihn mir jetzt vorstelle. Bei handgeschriebenen Briefen war und ist es üblich, ein “PS” anzufügen. Vielleicht hatte man den Brief ein paar Tage liegen gelassen, und fand ihn nun nicht mehr passend “geschlossen”. Wie aufregend langsam das alles war und – wie schön. Ich sehne mich zurück nach dieser Art von Beschaulichkeit und notwendiger Geduld. Wie aufregend, wenn der ersehnte Brief nicht kam und wenn er dann kam! Wie beängstigend auch, wenn eine Auseinandersetzung im Raum stand oder eine Frage nach Antwort verlangt hatte! Ich hatte ausgiebige Korrespondenzen mit Mentoren und Mentorinnen, Lehrern, Freunden und Freundinnen, Liebhabern und engen Angehörigen. Im Tagebuch schrieb ich an meine Seele, führte Zwiegespräche mit ihr. Nie fand ich diesen Ausdruck überspannt, außer in den Jahren, wo ich mich einem Freund/Liebhaber unterworfen hatte. Das habe ich natürlich nicht gemerkt und hatte später damit reichlich zu tun.

Nun zum Punkt: Ich rebellierte sofort gegen den Begriff “Selbstfürsorge”, weil er für mehr Verwirrung als für Klarheit sorgte. Bis wir, die wir Buddha für uns wegweisend finden, überhaupt verstehen und empfinden, wo wir uns auf Wegen der Ablenkung befinden oder befinden könnten; der Täuschung und gerade einem der drei Geistesgiften (Gier, Hass und Täuschung) huldigen, dauert es geraume Zeit. Und nie werden wir damit fertig, mit den Versuchungen außerhalb des Tempels und innerhalb unseres eigenen Inneren, was, wie wir feststellten, kaum voneinander zu trennen ist, aber dennoch nützlich ist, diese Unterschiede zu identifizieren. Was sich wie gesunde Selbstfürsorge anfühlen kann, ist in Wahrheit meist damit verbunden, dass wir uns die Erlaubnis erteilen, unsere Aufmerksamkeit auf uns selber zu richten. Wer von uns co-abhängig ist, wird die kurzfristige Erleichterung begrüßen. In Wahrheit aber liegt die Antwort auf die Frage, ob ich richtig lebe, gut für mich sorge, wesentlich tiefer. Sie lautet nämlich: Wer möchte ich sein?

Während des Jahrzehnts intensiver Weiterbildung in “Themenzentrierter Interaktion (TZI)” nach und mit Dr. h.c. Ruth Cohn, war es immer wieder diese Frage und zahlreiche Unterfragen, denen wir uns intensiv widmeten. Ich erinnere mich noch, dass ich, zu meiner eigenen Überraschung, “weise” sein wollte.

Mit jener Ausbildung, oder vielleicht schon vorher, mit dem Einlassen auf eine lange Psychoanalyse (nach Alfred Adler), begann ein Weg zunehmender Fürsorge-Fähigkeit, der bis heute nicht an ein Ende gekommen ist.

Bonn, 16. Mai 2025