Persönliche Eindrücke über den ungewöhnlichen Zen-Meister und Sozial-Aktivisten Bernie Glassmann Roshi
Die Nachricht erreichte mich Sonntag Nacht durch meinen Ex: Hast Du gehört, dass Bernie gestorben ist? Nein, hatte ich nicht, ausnahmsweise war ich mal einige Stunden lang nicht auf Facebook gewesen, weil ich mit meiner Schwester am Abend ein Jubiläumskonzert mit einer Lesung von Iris Berben besucht hatte: Zum Gedenken an die Beendigung des ersten Weltkrieges 1918 und die Progromnacht 1938. Es war: Zum Weinen ergreifend gewesen! Ich bin schließlich Deutsche und hoch belastet mit meiner individuellen wie kollektiven Geschichte. Erschüttert über die gelesene Lyrik und Briefe und den herausragenden Kammerchor gingen wir nach Hause, zu meiner Schwester, die in Stuttgart wohnt. Ich lebe in Bonn.
Ich war auch deswegen so dünnhäutig, weil ich genau wusste, dass am Montag früh, also gestern, das 23. Zeugnis-Ablegen-Retreat in Auschwitz beginnen würde. Viele Freunde, zwei meiner ehemaligen Lehrer, andere Lehrer sind gerade, während ich schreibe, auf dem größten Friedhof in Europa: In Birkenau. Täglich viele Stunden meditierend, auf der Selektionsrampe. Ich wollte eigentlich dabei sein, hatte mich aber dazu entschieden, die in meinem Kalender freien Tage zum Schreiben über meine Erfahrungen mit den Fünf Retreats zu nutzen. Und nun dies.
Bernie ist tot. Ein hervorragender Zen-Lehrer, ebenso hervorragend ausgebildet, mit einem Doktortitel in Mathematik und einer Physiognomie, die ihn abwechselnd wie ein Clochard oder ein Snob aussehen lassen konnte, vor allem aber wie ein Mensch, war am Sonntag morgen, amerikanische Ostküstenzeit, um 11 Uhr zu Hause gestorben. Seine Frau Eve Marko, ebenfalls Zen-Meisterin, war dabei, als Bernie seinen Körper verließ und ins Große Nicht Wissen eintauchte.
Facebook ist seit diesem Moment Sonntag spät abends natürlicherweise zu einem Fluss an Texten, Fotos, Filmen geworden: Beileidsbekundungen aus aller Welt, Artikel in Magazinen, persönliche Reflexionen seiner engsten, ehemaligen Schülerinnen und Schüler, viele von ihnen zu Freunden geworden. Zen-Meisterin Joan Halifax greift irgendwie ordnend ein, mit ihren von Liebe und Respekt getragenen Beiträgen über ihren Lehrer und Freund Bernie Tetsugen Glassman. Diese ist inzwischen in Japan gelandet, um dort zu lehren, und gehört zu den Zen Peacemakern der ersten Stunde. Das heißt zu denjenigen, die diese Gemeinschaft, die zwischenzeitlich ein Orden war, maßgeblich inspirierte und mit begründete. Als ich den Zen Peacemakern begegnete, durch ein Buch, das ich im „Waldhaus am Laacher See – Zentrum für Buddhismus und Bewusstes Leben“, mit dem mich erschütternden Titel „Zeugnis Ablegen In Auschwitz“ fand, war der Grundstein gelegt für eine weite Reise, die bis
zum heutigen Tag andauert.
Als ich das Buch las, zitterte ich, innerlich. Dies war ungeheuerlich, ich hatte immer, seit ich von der Existenz dieses Un-Ortes gehört hatte, als Teenager, und den Schock darüber in der Tiefe meines Herzens vergraben hatte, nach Auschwitz gehen wollen. Bernie Glassman, der auch hervorragend schreibt, hat diesen Ort berührt. So, wie er andere Orte fühlen und berühren und transformieren kann. Für mich war Bernie ein Heiler, ein Schamane, ein Wanderer zwischen den Welten. Wie ich eine war, ohne das damals zu wissen. Wie kann man so etwas wissen, man kann es nicht.
Aber Bernie. Ein Weg-Kundiger der Meditation. Der Zen-Meditation. In keiner anderen buddhistischen Tradition wird soviel Wert auf Form, Sitzen und die direkte Erfahrung gelegt. Mit der ganzen Bandbreite des Menschlichen, als Jude all zumal. Glassman hatte eine polnischen Mutter und einen russischen Vater. Beide Immigranten. Seine Mutter hatte eine großen Teil ihrer Familie durch die Shoah verloren. Ein Entwurzelter, wie so viele Amerikaner, die ich später kennen lernen sollte.
Bernie ist tot. Er wurde am 18. Januar 1939 in Brighton Beach geboren, in Brooklyn New York, als das fünfte Kind und einziger Junge in der Familie.
Sollte ich eines Tages nach Amerika reisen und mit ihm lernen? Sehr vage Fragen tauchten auf, während ich zu Hause, alleine, morgens vor unserem Altar sass, und die spezifischen Zen Peacemaker Gelübde rezierte, in denen die drei Grundsätze enthalten waren, die für Bernie‘s Lehre stehen und bekannt geworden sind: Nicht-Wissen, Zeugnis ablegen, liebendes Handeln. Damals, 2007 oder 8 verband ich noch nicht soviel damit wie heute, aber ich wusste: Ich will Zen Peacemaker sein.
2009 ergab sich DIE Gelegenheit: Bernie Glassman war eingeladen, auf der Bühne zusammen mit dem Dalai Lama, den ich damals schon verehrte, und mit anderen, Anselm Grün und Bernd Scobel, zu einem riesigen Publikum zu sprechen.
Ich kam, ich sah, und er siegte: Bernie war in mein Herz eingezogen, und ich meldete mich umgehend zu meinem ersten Zeugnis-Ablegen-Retreat in Auschwitz an, das ausnahmsweise im Juni 2010 stattfand (alle anderen im November). Von da an nahm ich an weiteren vier Retreats in Polen teil, und danach anderen In den „Black Hills“, Süddakota, mit Lakota Indianern zusammen; in Griechenland, Piräus, ah’einem Flüchtlingslager; in Lampedusa; in Bosnien/Herzegowina. Auf der Strasse in Paris, denn Bernie ist auch bekannt geworden mit seinen Strassen-Retreats, nicht nur in New York.
Bernie hat mich gelehrt: Man soll seinen tiefen Eingebungen folgen. Tiefe Eingebungen bekomme auch ich in den langen Zen-Retreats, Sesshins genannt. Man soll sich mit Leib und Seele hineinstürzen, ins Unbekannte, wie in Auschwitz. Eins-werden mit dem, wo man ist, was man ist. Man erfährt, es gibt keinen Anderen, keine Andere. Ich bin Auschwitz. Ich bin die ermordeten Seelen, die Gefolterten. Ich bin der Folterer, der sadistische Mensch. Ich habe alle Samen auch in mir. „Was tun wir Menschen anderen Menschen an?“ fragte der ZenMeister, der eines Tages seine Priester-Robe abgelegt hatte, immer wieder.
Je älter er wurde, desto öfter hörte ich ihn darüber trauern, dass er, wie so viele angehende Mönche, die ihre Familien für die Berufung verließen, auch seine erste Frau, seine Kinder Alisa und Mark, oft alleine gelassen hatte. So setzte er sich glaubhaft ein, mit seiner dritten Frau Eve (seine zweite habe ich nicht mehr kennen lernen können, sie war früh gestorben), dass Zen, oder jede andere spirituelle Praxis, auch zu Hause geübt werden könne. Zen Peacemakerkreise an allen möglichen Orten denkbar und wünschenswert seien. Wie er sich auch dafür einsetzte, ja, dafür stand, das die meist starre Hierarchie zwischen Zen-Lehrenden und ihrer Sangha auf heilsame Weise aufgelockert oder sogar ganz abgeschafft werden könnte. „Council“- das „Zu Rate sitzen“ im Kreis, und sich vom Herzen her austauschen, war und ist fester Bestandteil aller Zeugnis-Ablegen-Retreats, Strassen-Retreats, ja, auch von vielen Zen-Sesshins, die von seinen ehemaligen Schülern und Schülerinnen geleitet werden.
Eine äußert heilsame Bewegung in eine mehr demokratische Richtung hinein, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Machtmissbrauch, sexuelle und emotionale Ausbeutung eingrenzen wird oder verhindert. Ebenso hat Glassman sich für das Einüben Gewaltfreier Kommunikation eingesetzt, ein Thema, das aus meiner Sicht allzu langsam Einzug hält in buddhistische Sanghen. Aber immerhin: Es geht vorwärts, für einige. Andere beklagen, dass sei kein Zen mehr. Während wieder andere Zen-Meister Bernie Glassmann kaum mehr als wirklichen Lehrer von Zen anerkennen können.
Bernie Glassman, der enge Freundschaften mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionen, Glaubensrichtungen pflegte und auch Agnostiker schätzte, seine Retreats stets interreligiös anlegte, so dass z. B. in Auschwitz täglich verschiedene Arten „Gottes“-Dienste besucht werden konnten, hat aus meiner Sicht mehr für Zen, für Buddhismus, für Toleranz und Demokratie, damit auch für aufgeklärtes, politisches Bewusstsein getan, als viele meinen, als wir schon wissen können. Solcher Visions- und Tatkraft gilt meine Verehrung.
Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass heutzutage viele Menschen die Einsicht haben, dass es einer stabilen spirituellen Übung bedarf, um in lebensfördernden Werten gegründet zu sein und aus diesen heraus weise handeln zu können, auch: wehrhaft zu sein, furchtlos und voller Mitgefühl für alles Leben auf diesem wunderbaren und doch auch verwundbaren Planeten: Dann gab uns dieser vielseitige Mann und Vater, Ehemann und Lehrer ein leuchtendes Vermächtnis in dieser krisenhaften Zeit.
Und von Erleuchtung habe ich da noch nicht einmal gesprochen.
Mit drei tiefen Verbeugungen!
Ich bin so geehrt, Dich kennengelernt zu haben, Bernie!
Und: Ich vermisse Dich.
Monika Jion
Dharmahalterin der Zen Peacemakerkreise
Gründerin der Nicht-Wissen-Sangha, Bonn International