​Holocaust-Erinnerungs-Tag – Gestern, am 27.1.2020, war dieser Tag und wurde an vielen Orten dieser Welt – oder sollte ich sagen: der westlichen Welt – begangen. In Bonn, wo ich seit 37 Jahren lebe, weiß man schon ungefähr, welche Veranstaltungen wo und wann stattfinden werden, aber ich konnte gestern nicht dabei sein.

Also habe ich ferngesehen, an einer Life-Übertragung aus Auschwitz teilgenommen. Am Sonntag, vorgestern also, wurde wiederum eine Veranstaltung aus Yad Vaschem direkt übertragen.
Wie manche von Euch wissen, fließen bei diesem Titel-Begriff wie bei den Worten „Auschwitz“, „Yad Vaschem“, „Jude“ und „Holocaust“ oder „Shoah“ alle drei machtvollen Übungswege meines erwachsenen Lebens ineinander: Das Schreiben (und Lesen natürlich auch), die Zen-Meditation, der engagierte soziale Buddhismus. Mit Lesen hatte es begonnen, dass ich verstehen wollte, was im Namen Nazi-Deutschlands geschehen war und auch Ausdruck fand in meiner Ursprungsfamilie. Kann es in Deutschland – Wie ist es in Österreich? Ich kenne mich da nicht aus – wirklich ein Nachkriegskind geben wie mich zum Beispiel, Jahrgang 1952, das mit Recht von sich sagen kann, seine Familie sei unschuldig? Wer waren die ganzen Nazis und Nazianhänger*innen? Darüber wollte ich einfach mehr wissen und mir gegenüber Rechenschaft ablegen. Gespürt hatte ich früh, dass es etwas zu verheimlichen gab, Anderes wurde sicherlich verdrängt und musste verdrängt werden, wieder Anderes wurde vielleicht nie hinterfragt. Also las ich, begann langsam zu fragen, erhielt wenige Antworten, zum Beispiel zur langen Flucht der Mutter, und begab mich mit meinem damaligen Partner auf meine erste Polenreise 2003. Sechs weitere, und dann alle sechs nach Krakau und Auschwitz, von 2010-2014 und 2019 würden folgen.
2007 fiel mir im „Waldhaus – Zentrum für Buddhistische Studien“, wo ich jährlich jeweils zwei mehrtägige Schreib-Retreats zu leiten pflege, das Buch „Zeugnis ablegen in Auschwitz“ von meinem späteren Zenpeacemaker-Lehrer Zen Meister Bernie Glassman in die Hände, das mich umgehauen und meinem Leben eine neue tiefe Richtung gegeben hat. Seit 2010/2011 fallen Zen-Praxis (als Buddhistin war ich vorher schon seit 1990 auf dem Weg) und sozial engagierter Buddhismus zusammen. Schon nach dem ersten 5-tägigen Retreat in Auschwitz-Birkenau, wo man täglich mehrere Stunden lang draußen in Stille sitzt und Namen rezitiert, besuchte ich den Zen Dojo in Bonn, und es dauerte nicht mehr lange, dass ich 2012 meinen ersten amerikanischen Zen-Lehrer Genjo Marinello Roshi traf, in Auschwitz, mit dem ich dann fünf Jahre sehr intensiv studierte, praktizierte, Sesshins für ihn in Bonn organisierte und eine Sangha aufbaute.
Meditation, tiefes Schauen, Hinhören, auf alle Stimmen, das war mir aus meinen schamanischen Jahren schon vertraut. Doch mit Bernie gingen wir weniger in die Natur, sondern an einige der dunkelsten Orte dieser Erde! Tat Buddha das nicht auch, wenn er des Nachts auf Friedhöfen saß? Ich entdeckte, dass Orte sprechen. Dass Orte Energie speichern, die man beginnen kann zu sehen. Ich lernte, dass man zu Orten sprechen kann, dass man diese transformieren kann, in sich und in anderen.Stilles Gehen, Geh-Meditation schätze ich da auch sehr. Zum Beispiel auf den Schienen, die vom Tor zum Friedhof Birkenau zur Selektionsrampe führen. Ich habe das sehr gerne getan. Ich stellte mir dabei vor, wie ich mit jedem Schritt, jedem Atemzug eine Seele sanft und mitfühlend berühren könnte, die aufgrund der grässlichen Geschehnisse in den Waggons oder beim Aufschließen der Waggons noch keinen Frieden finden konnten. Solche und andere Einfälle kommen einem an solchen Orten, jedeR erlebt es etwas anders. Man stellt sich dem Ort, den Wesen in besonderer Weise zur Verfügung. Man betet oder chantet.
Als ich die alten, schönen Gesichter der immer noch zahlreichen Holocaust-Überlebenden sah, im Film gestern, und das projizierte Foto der beiden Türme links und rechts an der Seite des Tores, empfand ich diese selbe Zärtlichkeit. Man erfährt, wirklich nicht getrennt zu sein von all den grässlichen Leiden, trotz der Übernahme von voller Verantwortung für die kollektive Schuld Deutschlands, Nazi-Deutschlands an der Shoah.
Ich schreibe hier und woanders, in Schreibwerkstätten für meist deutsche Kriegskinder und ihre Nachfahren, und auch hier gilt: Schreiben wie Meditation verlangsamt das Denken und führt uns zurück oder hin, zu den vereisten, verödeten Landschaften unserer Seele: Zum Leiden an Schuld und Scham der Täter*innen, zum Leiden an den zugefügten Foltern, der Angst und den Morden ringsum und in der eigenen Familie, zum menschlichen Leiden aller, das allgegenwärtig ist. Denn auch jetzt gerade wird gemordet und gestorben, irgendwo auf diesem Planeten. Wer sensibel ist, spürt und weiß das.
Gedenktage begehen heißt: Sich mit der ganzen, großen schmerzhaften Wahrheit auseinanderzusetzen. Für Verständigung einzutreten, um Verzeihung zu bitten, auch innerlich, wo immer es möglich ist. Schuld zu bekennen, weil es uns als Menschen adelt. Es scheint aus der Mode gekommen zu sein, dass Schuldbekenntnis die Bedingung für ehrliche Reue ist. Wie ehrliche Reue die Bedingung ist für tiefes Verzeihen können des Anderen darstellt. Wie die Möglichkeit des Verzeihens oft schon reicht zur Verständigung, wenn ein offener Dialog angestrebt wird.
Briefkorrespondenzen, Zweiergespräche, Gruppenaustausche: Alles kann der Befriedung dienen, und so können wir selber etwas leichter leben und sterben und diese Freude auch anderen schenken!