Ich schrieb diesen Artikel vor mehr als einem Monat. In gewisser Weise ist er also veraltet. Dennoch möchte ich ihn zu Gehör bringen.

Es ist spät, aber nicht zu spät, um mich mal wieder an Gretas Seite zu stellen. Als Antisemitin wurde sie nun gebrandmarkt, weil sie für Palästina demonstrierte und nicht für Israel. Hatte man etwas anderes von ihr erwartet, von Greta, die sich überhaupt nicht scheut, ihren Finger in die vielleicht schmerzendste Wunde des deutschen Kollektivs zu legen und den Anfeindungen zu trotzen? Intelligenz UND Unerschrockenheit, das verzeihen ihr – pardon! – viele Deutsche nicht. Vielleicht konnten sie ihr nicht verzeihen, dass sie tat, was sie selber hätten schon längst tun sollen: Sich umfassend informieren, zum Beispiel, Kontakt aufnehmen mit hochrangigen Klimaforschern, und anderen Autoritäten. Auf die Brisanz des Themas “Klima-Notstand” aufmerksam machen durch Aktionen zivilen Ungehorsams. Provokativ hielt sie den Eltern und Großeltern den Spiegel vor: „Eigentlich sollte ich zur Schule gehen…“, aber, so ergänze ich, „Ihr lasst mich/uns nicht jung und vertrauensvoll sein, Ihr guckt weg und zieht Euch zurück, in der kindischen und feigen Hoffnung, dass der Kelch noch einmal an Euch vorüber gehen möge.“

DAS lässt kein richtiger Deutscher auf sich sitzen. Er – meist ist es ein „er“ – lässt sich nicht erwischen bei nachlässiger Feigheit, zurechtweisen schon gar nicht, vor allem nicht von einem so intelligenten KIND, einer jungen Frau, die sich dann noch jeder Sexualisierung verweigert. Kritik und Zurechtweisungen müssen wir aber ertragen lernen und von dem kritischen Blick lernen, wenn wir nicht wieder in diese grausame “Schwarze Pädagogik” einer Johanna Harrer zurückfallen wollen, die unseren Vorfahren genaustens beschrieb, wie man den Willen junger Kinder gründlich bricht! Oder sind wir da schon wieder angelangt? Wenn ich mir manche Ansagen in Straßenbahnen oder Vorträge  im Radio und Fernsehen über die neuesten COVID-Maßnahmen vergegenwärtige, dann hatte ich allerdings öfter den Eindruck, dass noch manche autoritative (diktatorische) Neigung zu Gemeinheit und zum Zurechtstutzen Untergebener ihr Unwesen treibt in geschundenen deutschen Seelen!

Einige meiner Freundinnen und ich haben uns sehr geärgert über die plumpe, rasche herabsetzende Reaktion der Besserwisser:innen und notorisch Guten. Inzwischen geht man kein Risiko mehr ein, sich strikt auf die Seite der Jüdinnen und Juden zu stellen – interessant. Das war mal anders.  Nein, jetzt ist es ist angesagt, sogar vorgeschrieben, Israels Politik, die durchaus anzweifelbar ist, vorbehaltlos zu unterstützen. Genauso, wie es angesagt oder zumindest möglich geworden ist, Pazifisten, Seenotretter, Gaza-Schützer, Extinction-Rebellen, COVID-Skeptiker, Menschen-Tier-und Erdrechtler:innen auf dem Kontinuum zwischen verachtenswert und kriminell einzuordnen.

Einem KIND gesteht man nicht zu, eine Gesellschaft zu belehren und Sätze wie „Wie können Sie es wagen…“ an diese zu adressieren. Dabei sind viele aufgewacht aus ihrem bequemen Halbschlummer des sich unter dem Berg an Fakten und Versäumnissen Wegduckens. Endlich kann man die Hierarchie wieder herstellen, und da ist Greta diejenige, die sich sagen lässt: „Wie kannst Du es wagen, gegen die Statuten der Schule zu handeln, die für Kinder das HEILIGSTE ist, absolut in ihrer Gewalt, unerbittlich wie die späteren Arbeitgeber und die jetzigen Eltern!“ Ja ich bin sauer, ärgerlich, empört.

Deinen Mut hätte keiner und keine von uns aufgebracht, Greta, dazu waren wir viel zu hörig.  Was Schule früher sagte, wurde befolgt (oder heimlich boykottiert), was die Eltern bezüglich Schule sagten, im Allgemeinen auch.

Ich finde, unsere Kinder und Kindeskinder haben unseren vollen Respekt, unseren Beistand und manchmal mehr verdient! In der Klima-Angelegenheit – und den Kriegen, setze ich hinzu – vererben wir ihnen so große Lasten, dass Bescheidenheit, Bedauern, Reue bis hin zu Bitten um Verzeihung erwogen werden sollten. Oder doch zumindest ein ehrlicher, tief empfundener Dank an die jungen Engagierten ausgesprochen werden könnte.

Zahllose junge Menschen habe ich in Flüchtlingscamps, bei der Seenotrettung, auf der Straße uneigennützig und kreativ handelnd gesehen,  An Ständen von Amnesty International und anderen Graswurzel-Treffpunkten sah ich NUR junge Menschen. Sie machen sich schlau und trainieren für gewaltfreie, medienwirksame Aktionen. Was ist daran zu beanstanden, Aktionen zu planen, wie Greenpeace vor Jahrzehnten begonnen hatte? International und quer zu politischen Parteien. Zum Müllsammeln und Basisarbeit in modernen Slums waren und sind sie sich auch nicht zu schade – die Schülerinnen und Studenten.

Es wird Zeit, dass wir lernen zuzulassen, dass unsere Kinder uns an Menschlichkeit und Einsicht in weite Zusammenhänge manchmal überragen können.  Die Zeiten des Zurechtstutzens, Beschämens und Kleinhaltens der Jugend ist vorbei. Das waren ehemals Nazi-„Tugenden“, die zu oft heimlicher Brutalität und enormer zwischenmenschlicher Verklemmtheit geführt hatten. Zu Lug und Trug.

Greta Thunberg hat offen über ihre Angst und Schwächen gesprochen. Das nun gegen sie zu verwenden, ist schäbig. Wir Alten sollten es ihr gleichtun: Denn die meisten von uns wollen AUCH, dass es unseren Nachkommen gut gehen kann.

Wir wagen das Gute und Richtige zu tun – JETZT!

 

Foto von Aslıhan Altın auf Unsplash