– Einem guten Freund gewidmet –

„Am 22. März 1933 erreichen erste Gefangenentransporte das Lager, das auf dem Areal einer stillgelegten Pulver- und Munitionsfabrik eingerichtet wurde“, lese ich nach. Wenn ich nach innen schaue, finde ich dort nicht viel. Gemerkt habe ich mir, aus den Lesungen der Schülerinnen und Schüler im ASAM-Gymnasium, dass am 9. November schikanierte und aus ihren Synagogen, Häusern, Wohnungen, Geschäften und allen Stätten geselligen Zusammenlebens vertriebenen Jüdinnen und Juden nach Dachau geschickt wurden. Ob das alle oder jedenfalls die meisten betraf, kann ich nicht mehr sagen. Im Memorieren von Zahlen bin ich nicht gut, und Zahlen sagen mir auch zu wenig, als dass ich sie mit genügend Interesse füttern würde. Gerade rund um die Verfolgung und Ermordung im sog. Dritten Reich sind mir die Zahlen immer unwürdig, peinlich gewesen. Man kann sich hinter dem echten oder gespielten Erschaudern der Zahlen so gut verstecken – denn: Was sagt uns die Zahl? Wir sollten darüber nachdenken. Viel mehr sagt doch, was konkrete Menschen konkret taten oder unterließen, wie sie sich – ich spreche jetzt von meinen deutschen Vorfahren, von Onkel, Tante, Vater, Mutter, Großmutter und Großvater – im Laufe ihres Lebens entwickelten, wie sie schwiegen oder sprachen, ob sie – pathetisch gesprochen – eine Sprache fanden, die ihr Herz einbezog, das Herz der jüdischen Nachbarn und ihren Nachkommen. Ob sie mit Gott sprachen und wie.

Derzeit treten Hunderte, Tausende aus der evangelischen Kirche aus, sagte mir ein Freund, wegen der Missbrauchsskandale, die jetzt erst auf den Tisch gekommen sind. Die Kinder missbrauchender Väter und Großväter waren oft als junge und sehr junge Soldaten in beiden Weltkriegen verführt und missbraucht worden. Sie aber waren bzw. sind die Vorfahren unserer Priester und Pfarrer – ist es ein Wunder, dass diese grenzverletzten und grenzverletzenden Menschen ihre oft durch Abrichtung entstandene Krankheit an Abhängige weiterreichten, weil sie Liebe ohne Missbrauch selber nicht kannten, vielleicht für normal hielten? Ich erlaube mir diese vereinfachte Zuspitzung. Das heißt keinesfalls, dass wir keine Ansprüche an leitende Geistliche stellen sollen und beide Augen zudrücken. Nein, wir sollten uns damit konfrontieren, in exzellent geleiteten Selbsterfahrungsgruppen, wie Traumata sich verstecken und aktiviert werden können. Regelmäßige Intervision, Supervision, deren Anbieter von außerhalb des Systems kommen, sollten selbstverständlich werden.

Dachau, dieses erste deutsche Konzentrationslager: Warum ist gerade dieses so blass in mir? Musste es im kollektiven Gedächtnis eher verschwinden als Auschwitz, das sich nicht auf deutschen Boden befand? Konnte man Auschwitz so irgendwie den Polen andichten?

Ich fuhr länger mit der Straßenbahn, als ich angenommen hatte. Gut, dass ein Dreivierteltag in diesem Regenwetter vor mir lag. Schilder nach Dachau waren schlecht zu finden, ich fühlte mich miserabel informiert. Wie merkwürdig. Ich möchte wissen, ob ich den Bus nehmen sollte oder wie weit es zu Fuß ist. Keine vernünftige Antwort. Schließlich durchquere ich einen kleinen Park, werde in eine Straße geschickt, die gutbürgerlich aussieht, und in der nichts auf das nahe Lager deutet. Die Sonne kommt heraus, noch hängen leuchtende Blätter an den stattlichen Bäumen. Ich bräuchte einen Reiseführer, es kann doch nicht sein, dass diese ganze Gegend nicht mit Erinnerungen getränkt ist. Auf einmal befinde ich mich auf einer schnurgeraden Straße, und auf der linken Seite reihen sich stattliche Bürgerhäuser aneinander. Ich werde erfahren, dass genau in diesen Häusern und Villen Mitglieder der SS mit ihren Familien wohnten. Mir fällt ein, dass ich ein Schild von Todesmärschen gesehen hatte, und mir wird elend.
Eigentlich bin ich dagegen, derartige Orte alleine zu betreten. Wenn man es trotzdem tut, ist die Gefahr groß, dass man sein Herz verschließen wird. Ich finde, darüber wird nicht genügend nachgedacht, und dies Wissen wird nicht mit einbezogen, um vernünftiges Gedenken an solchen fürchterlichen Orten zu ermöglichen. Eine didaktische, psychologische und spirituelle Herausforderung!

Aber nun bin ich alleine und entschließe mich, bewusst TongLen* zu üben, das wir an Orten wie Auschwitz durch die geschickte Komposition der Zenpeacemaker-Zeugnis-Ablegen-Retreats (nach Bernie Glassman) sowohl unwillkürlich wie bewusst praktizierten.

Ab jetzt, so nehme ich bewusst wahr, bin ich „drin“: Damit meine ich: verbunden. Nicht gefährdet. Ich kenne dieses Empfinden von Geerdet-Sein bei gleichzeitiger Entspannung und Sammlung. Furchtlosigkeit und Intuition haben übernommen. Diese lange, schnurgerade Strecke! „Alte Römerstraße” heißt sie. Hier also waren sie entlanggegangen, mit ihrer zusammengerafften Habe, mit Koffern, Taschen, Beuteln, Babys, Kleinkindern, die noch getragen oder gefahren werden mussten. Ältere Kinder, Teenager, die selber trugen. Schwache, Kranke, Kerngesunde…der Weg schien kein Ende zu nehmen. Später lese ich nach: Es waren anfangs nur Männer, die hierher, zum Arbeiten, geschickt wurden. Wo waren denn die Frauen und Kinder hingekommen? Politische Gefangene waren die ersten, die nach Dachau geschickt wurden zwecks „Verfolgung und Beseitigung der politischen Opposition“. Aha. So beginnt die schrittweise Faschisierung immer.

Ich lese ein Schild von einem „Eicke“-Platz, und mir wieder wieder übel. Wo habe ich von einem „Eicke“ gehört oder gelesen, in den Fotoalben meiner Familie? In meiner Kindheit? Mit München hatte wir eigentlich nichts zu tun, eher mit Berlin, aber wer weiß? Meine Großmutter und meine wissende Tante Nati interessierte sich für die Verbindungen der Nazi-Größen untereinander. Sowenig ich weiß, aber DAS weiß ich sicher. Wie ich auch im Rahmen meiner Reise nach Vietz und Landsberg – Geburtsort und Internats-Ort meiner Mutter –  sowie nach Baden-Baden zu einem Zeitzeugen meiner Großeltern von den insgesamt an die 600 Fremdarbeitern erfahren habe, die mein Großvater Alfred Strunk in dreien seiner vier Fabriken beschäftigte. Vielleicht imponierte Lagerkommandant Theodor Eicke alten Nazis, der auf Befehl Hitlers Röhm eigenhändig umgebracht hatte und ein „brutales Strafreglement und Dienstvorschriften für die Lager-SS (Schutzstaffel)” beinhaltete. 21 politische Gegner werden von der SS im KZ Dachau umgebracht. Dieses „Dachauer Modell“ aus Terror und Willkür überträgt Eicke auf andere KZs. Da ich mich auf der bevorstehenden Auschwitz-Pilgerreise diesmal besonders um Künstler, Schriftsteller, Dichter und Oppositionelle kümmern möchte, interessiert mich der nun folgende Satz: „Auch Personen, die wiederholt Straftaten begangen haben oder einen unangepasstem Lebensstil führen, werden als „kriminell“ und „asozial“ verfolgt und in KZ-Haft genommen”. Mir scheint, dass diese Haltung gegenüber Menschen mit „unangepasstem Lebensstil“, der oft unter Künstlern und Lebenskünstlern aller Arten zu finden ist, sowohl in den 60iger wie 70iger Jahren wieder auflebte,  und jetzt gerade wieder zu beobachten ist – seit der Pandemie, und zu unserem Entsetzen. Sogar die ‘Intelligentija’ – und Deutschland war besonders intellektuellenfeindlich – werden die Unangepassten wieder scharf unter die Lupe genommen und gelegentlich diffamiert, sogar mit Berufsverbot bedroht oder bestraft.

„Im Zuge der Novemberpogrome im Jahr 1938 werden fast 11.000 jüdische Männer in das KZ eingeliefert. (Und was ist mit den ANDEREN?) Die SS misshandelt und erpresst sie, um sie zur Aufgabe ihres Vermögens und zur Emigration zu zwingen.

Ich kann kaum weiterlesen. Nach Ausbruch des Krieges wird es immer schlimmer. Für die Häftlinge auch! Dachau wird zu Ausbildungszwecken gebraucht, für die Division Totenkopf, während immer mehr Häftlinge aus von den von der Wehrmacht besetzten Ländern ab 1940 in dieses KZ eingeliefert werden. Die Lebensumstände für die Häftlinge – mangelnde Versorgung, schreckliche Hygiene, mörderische Arbeitsbedingungen – führen zu einem sprunghaften Anstieg der Sterberate.

Was ich jetzt lese, von 1941 an, ist so entsetzlich, dass ich eine Pause brauche. Meine Phantasie, wir Deutschen hätten uns geschützt vor dem Wissen über die katastrophalen Bedingungen im KZ Dachau, vielleicht auch, um das leuchtende Antlitz der bayrischen Stadt München für Touristen aus aller Welt nicht zu gefährden, erhärtet sich. Lieber lassen wir nach Auschwitz in Polen reisen, wo vielleicht die Idee aufkommen könnte, der Holocaust sei originär gar nicht deutsch, sondern vielleicht polnisch.

Aber Schülerreisen nach Dachau…würden Vieles zurecht rücken. Werden solche gemacht? Fragen kämen auf. Wie ging es den Münchener Bürgern? Wie haben sie reagiert? Ein wenig habe ich in den Tagen mit Terry und seinen Freunden erfahren. Diese sind so fleißig, dass sie sich einen ganzen Stadtteil vornehmen und recherchieren. Man muss sich vorstellen, das hat ein JUDE angeleiert, kein Deutscher! Ich muss ausatmen. Wieviel Großherzigkeit und Güte stecken dahinter!
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/terry-swartzberg-muenchen-holocaust-shoah-gedenken-1.5689806

https://www.stolpersteine-muenchen.de/

[EXKURS: Was verstehe ich eigentlich unter einem Pilgertag, einer Pilgerreise, einer „modernen Pilgerreise“, wie ich manchmal sage? Ich will versuchen, ein paar Worte zu finden. Pilger:innen-Reisen/Fahrten, wie ich sie verstehe, und wie ich zum ersten Mal 2013 nach Lampedusa anbot, sind einem Thema gewidmet, das über uns hinausgeht. Eine Widmung ist eine starke Absicht. So wie ich mit Widmungen arbeite, wenn ich Buchprojekte/Textsammlungen für Anthologien/Doktorarbeiten anstoße und/oder begleite, so „arbeiten“ wir mit Widmungen für unsere Reise. Diese sind so unterschiedlich wie die Menschen sind. Möchte ich meine Beziehung zu Gott oder Maria erneuern, widme ich die Fahrt dieser Erneuerung. Geht es um Heilung eines geliebten Menschen oder eine wichtigen Beziehung? Darum, meine Lebensaufgabe/Berufung zu finden oder um den Mut, meinen Platz in der Welt, im Leben, in einer Gruppe zu finden? Spätestens jetzt wird Ihnen klar, worum es gehen kann, nicht muss. Es darf ein deutlich religiöses, ein spirituelles Anliegen sein, jedoch kann es ein sehr säkularer Wunsch sein, der aber durch die Fokussierung meines „Einsatzes“, durch die Formulierung meiner Absicht, eine deutliche Aufladung gewinnt, die wir im Deutschen als „geistig“ bezeichnen könnten, und dieses geistig ist auch in Spiritualität enthalten. Selbst wenn es sich einfach um den Wunsch, ein höheres Einkommen zu erzielen, handeln sollte, würden wir doch untersuchen, wodurch sie dies erreichen könnten und würden wichtige Fragen stellen nach dem, was Sie bereit sind zu geben und andere wichtige, letztlich existentielle Fragen stellen.
Viele würden sicherlich an die erste Stelle einer so herausfordernden Reise etwas wie Trauer, Scham, Reue, den Wunsch nach Wiedergutmachung, Zeugnis geben nennen. Tiefere Schichten unseres Familiensystems werden mit Sicherheit berührt. Beziehungsheilung kommt mir in den Sinn. Alles hat Platz, nichts wird ausgeschlossen. Birkenau eignet sich exzellent für alle Versöhnungsprojekte.
(Wobei ich selber schon erlebt habe, dass gerade an jenem Ort: Versöhnungsgespräche abgelehnt wurden. Eine Ablehnung, die mich und eine Beziehung zu einer Lehrerin betraf, und die isolierte Situation eines  der spirituellen Lehrer in Auschwitz, der keinen Raum bekam, sich zu verteidigen. – Ich habe daraus gelernt. Und biete mir selbst Vergebung an. Das dient alles als „Schlamm für den Lotus“, der in Auschwitz erblühen kann. Wenn nicht dort: Wo dann? Wenn nicht jetzt: Wann?)

Exkurs: Meine erste Polenreise 2002

Als ich über Google mehr Einzelheiten über die drastischen Veränderungen des KZ Dachau erfuhr, konnte ich erst einmal nicht mehr weiter lesen, weiter schreiben. Wie damals, bevor ich mich zu der ersten Polenreise mit meinem damaligen Mann entschloss, hatte ich kurze, kontrollierte Angstattacken: würde ich auf irgendwelchen Listen dem Namen meines Großvaters begegnen?. Damals war ich gepeinigt von der Vorstellung, einige der Öfen der Firma Strunk seien auch nach Auschwitz geliefert worden. Das war wohl nicht der Fall. Über Einige meiner bangen Fragen klärte mich Herr Czarnuch, der Historiker und Schullehrer, der in der Geburtsstadt meiner Mutter Vietz lebte und für Verständigung, Annäherung, Versöhnung zwischen Polen und Deutschen aktiv und sehr kreativ eintrat, auf.  Nicht nur führte er uns zu den Häusern, die mich vor allem interessierten, dem Geburtshaus meiner Mutter (Villa Strunk), sondern auch nebenan zur Villa Fabian, die meiner Urgroßmutter gehört hatte und seit geraumer Zeit als gut besuchtes Heimatmuseum des Dorfes diente. Aus mehreren Quellen weiß ich, dass eine unüberbrückbare Fehde herrschte zwischen den Strunks und den Fabians. Die Kinder durften nicht zum Spielen über den Hof zur Großmutter gehen. Ich identifizierte mich mit ihr, da sie eine vielseitig begabte Künstlerin war. Allerdings keine, die schrieb, jedenfalls ist da nichts von ihr in dieser Hinsicht überliefert worden.

Der polnische Lehrer, der sich selber Deutsch beigebracht hatte (denn Polen wurde die Feindschaft gegenüber Deutschen regelrecht beigebracht, deshalb lernten sie natürlich kein Deutsch), führte Reiner und mich auch zu den Überresten der ehemaligen Angora-Farm, ganz am Ende der „Langen Straße“. Die Felle der Kaninchen dienten Bomberpiloten im Krieg, um sie warm zu halten. Inzwischen habe ich gelesen, wie brutal gerade Angorakaninchen „behandelt“ wurden, um an ihre Felle zu kommen – vielleicht hat meine Mutter ihre Tierphobie (und Menschen-Phobie) daher.

Das andere Haus, in welchem meine Mutter Christiane ihre Kinder- und Jugendjahre verbrachte, mit der einen Ziegelei im Hof, konnten wir betreten. Ich war sehr aufgeregt, meinen Fuß in dieses Haus zu setzen und die Treppenstufen empor zu steigen. Geklingelt haben wir hier nicht, das wäre unangebracht gewesen. Diese Reise fand nach der Wiedervereinigung statt, d.h. in einer Zeit, als nicht wenige vertriebene Deutsche die Orte ihrer Herkunft oder ihrer Vorfahren aufsuchten und manchmal Ansprüche stellten. Herr Czarnuch hatte für alles Verständnis, er war eine großartige, generöse Seele, von der ich viel lernte. Zum Beispiel gab er zu bedenken, dass die meisten Polen, die jetzt in Posen lebten, selber aus dem Osten Polens vertrieben worden waren – froh, hier bewohnbare Häuser vorzufinden. Er erklärte uns auch, dass in den Schulbüchern der jungen Polen nichts davon gestanden hätte, dass hier Deutsche gewohnt und gearbeitet hatten und dass sie zum Wohlstand des Ortes wie jeder andere beigetragen hätten. Dass deren Vertreibung eine furchtbare Tragödie gewesen war, die viele nicht überlebt hätten, und der nicht wenige durch Suizid zuvorgekommen waren. Auch in meiner Familie habe es auf einem Gut in absehbarer Nähe (?) ein Ehepaar (Honig?) gegeben, das sich umgebracht hätte.

Wenn ich meine Mutter etwas fragte, wusste sie gut wie nichts, sie sei schließlich die jüngste der drei Schwestern gewesen, und was mir Tante Nati auf meine Frage antwortete, erinnere ich nicht mehr. Von der Ältesten, Tante Gila, hatte ich erfahren, dass sie als junges Mädchen immer heimlich zu Tante Minna (der im Nachbarhaus wohnenden Dame) gegangen war – das durfte nur keiner erfahren.

Vor der Villa Hermann (vorhin habe ich sie Villa Strunk genannt) befindet sich übrigens ein großer Gedenkstein der Synagoge, die offenbar auch direkt an der Kreuzung gestanden hatte. Mir wurde immer übel, wenn ich an sie dachte, und ich möchte noch einmal nach Vietz reisen, um dort zu sitzen und Zeugnis abzulegen. Allerdings möchte ich es nicht unbedingt alleine machen. Wer könnte mich begleiten?
Ich las in einem geschichtlichen höchst einseitigen Kompendium, dass mein Großvater in der Synagoge Gauleiterversammlungen abzuhalten pflegte. Wahrscheinlich war das nichts Ungewöhnliches, aber ich bin mit den Jahren immer empfindlicher geworden mit Räumen, inneren und äußeren, die Menschen als heilig ansahen und entsprechend kultivierten. Ich verneige mich beim Schreiben und bin sehr traurig.

Dachau 

Nach diesen beiden Exkursen widme ich mich wieder dem unseligen Thema Dachau. Von der Wannseekonferenz aus wurden die KZ-Maßnahmen koordiniert. Das in Deutschland noch nicht in seiner Tragweite zur Kenntnis genommene Thema: Wie wird mit den sog. psychisch Kranken umgegangen? erfährt 1941 besondere Aufmerksamkeit: 300 Gefangene werden im sog. Invalidentransport in die Tötungsanstalt Hartheim überführt, wo sie umgebracht werden. – Schmerzlich erinnere ich mich an eine Zenpeacemaker-Aktion in Bonn, bei der unsere Gruppe Haus und Gelände der “Rheinischen Landesklinik Bonn” aufgesucht hat, um Zeugnis abzulegen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 ist Leben und Existenz des Juden Prof. Otto Löwenstein, Leiter der Kinderanstalt, in Gefahr. Er muss mit seiner Familie ins Ausland fliehen.

Ab dem 14. Juli ermöglicht das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” offiziell die Zwangssterilisation psychisch, geistig und körperlich Kranker.

1939-1944 (Wikipedia)

Die “Euthanasie-Aktion”, d.h. die von den NS-Verantwortlichen planmäßig durchgeführte Massenvernichtungsaktion gegen psychisch kranke und körperlich behinderte Menschen, wird auch in Bonn durchgeführt. Hunderte Bonner Patientinnen und Patienten werden in Tötungsanstalten geschickt und sterben dort, weil sie von den NS-Verantwortlichen als sogenannte “Ballastexistenzen” und “Rassenübel” abgeurteilt werden. Die verantwortlichen Ärzte der Bonner Anstalt unterstützen aktiv die “Euthanasie”-Aktion.

Am 18.Oktober 1944 wird insbesondere die Kinderklinik durch einen Großangriff auf Bonn schwer beschädigt, unbewohnbar gemacht und die Kapelle der Kinderanstalt total zerstört. Die Verlegung der meisten Kinder in andere Gebäude ist unausweichlich.

1950 (Wikipedia)

In den Euthanasie-Prozessen werden alle angeklagten Bonner Anstaltsärzte freigesprochen. Die Staatskasse zahlt an die Mediziner eine Entschädigung für die “erlittene” Untersuchungshaft und Amtsenthebungen 1945. Es gibt somit keine Täter, nur Opfer. Angehörige von “Euthanasie”-Opfern, zwangssterilisierte Patienten und die durch die Rassegesetze verfolgten Personen erhalten dagegen keine Entschädigung.

1964

Im November wird von Prof. Otto Löwenstein eine Bronzebüste an der Landesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie enthüllt.

Am 25. März 1965 stirbt Otto Löwenstein in New York.

In unserer Zenpeacemaker-Gruppe teilen wir Erfahrungen von seelischer und körperlicher Beeinträchtigung. In meiner Familie ist vor allem seelische Beeinträchtigung ein Thema. Von meiner Schwester Sabine weiß ich, wie sehr sie noch darunter gelitten hat, wie seltsam unnatürlich Menschen mit ihrem geistig behinderten und körperlich versehrten Sohn Florian umgegangen sind. – Wir waren froh, uns einen ganzen Tag für dieses so belastende Thema genommen zu haben. Vielleicht konnten wir in dem Baumkreis im Klinikpark und in der Kapelle etwas Harmonie stiften, eine Ahnung davon säen, wie wir auch mit unseren Auffälligkeiten und denen unserer Mitmenschen umgehen könnten. Was wir ihnen von Herzen wünschen. Wofür wir so dankbar sind.

Von meiner Erfahrung in der Gedenkstätte Grafeneck e.V., einer anderen Tötungsstätte in Baden-Württemberg, die ich im vergangenen Jahr besucht habe, werde ich gesondert berichten. Auch dort: Ein Ort, der einem das Herz zerreißt.
Hier ein Aufruf für ein Künstler-Projekt aus Grafeneck. “In 11 Monaten wurden in Grafeneck 10654 Menschen ermordet und verbrannt. Zum Gedenken an die Opfer wurden 10654 Figuren im Dokumentationszentrum aufgebahrt. Lassen Sie sich von einer Figur ansprechen. Geben Sie einem Opfer wieder einen Ort, eine Stimme. Setzen Sie sich ein für ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Voraussetzungen”. http://www.gedenkstaette-grafeneck.de/startseite

Zurück nach Dachau:

Jetzt möchte ich  einige Absätze aus den ausführlich dargestellten und gut recherchierten Wikipedia-Seiten kopieren, weil die Inhalte mich besonders schockieren:

Am 20. Januar fand die Wannseekonferenz statt, an welcher der Holocaust koordiniert wurde. Am 2. Januar startete der erste Transport, in der NS-Tarnsprache „Invalidentransport“ genannt, zur NS-Tötungsanstalt Hartheim. Dort wurden die Dachau-Häftlinge im Rahmen der Aktion 14f13 durch Gas getötet. Innerhalb eines Jahres brachte die SS in 32 Transporten[10] als geisteskrank oder arbeitsunfähig betitelte sowie unliebsame KZ-Häftlinge dorthin, insgesamt etwa 3000 Häftlinge. Diese Tötungsaktionen im Schloss Hartheim geschahen im Rahmen der NS-Krankenmorde.
Am 22. Februar begann im KZ die Versuchsreihe Unterdruck, an der die Luftfahrtmediziner Georg Weltz, Siegfried Ruff, Hans-Wolfgang Romberg und der SS-Hauptsturmführer Sigmund Rascher beteiligt waren.[36] Die Ärzte waren beauftragt, Reaktions- und Lebensfähigkeit des Menschen in großen Höhen, bei raschem Aufstieg (in Höhen bis 20 Kilometer und mehr) sowie beim plötzlichen Fall aus großer Höhe festzustellen. Eine Unterdruckkammer der Luftwaffe wurde angeliefert und zwischen Block 5 und den anliegenden Baracken aufgestellt.[37] Die Versuchsreihe endete in der zweiten Maihälfte und kostete 70 bis 80[10] von etwa 200 Häftlingen das Leben.
Am 23. Februar 1942 begann Claus Schilling seine ersten Experimente zur Erforschung von Medikamenten gegen die Tropenkrankheit Malaria. 1100[10] Häftlinge wurden infiziert und als Versuchspersonen missbraucht. Ihm konnten in den Dachauer Prozessen zehn Todesopfer eindeutig nachgewiesen werden. Diese Versuche führte Schilling bis zum 5. April 1945 durch.[10] Während die medizinischen Experimente zu Druckauswirkungen den Piloten nützen sollten, zielten diese Forschungen auf die beim Afrikafeldzug eingesetzten Soldaten der Wehrmacht ab.
Das Krankenrevier bestand in den ersten Kriegsjahren aus sechs Baracken, Kapo im Krankenrevier war Josef Heiden. Im Juni wurde in Block I eine biochemische Versuchsstation eingerichtet. Leiter war Heinrich Schütz. Es lief die Versuchsreihe Phlegmone (Entzündungen) an, durchgeführt in Block 1, Stube 3. Diese kostete bis zu ihrem Abschluss im Frühjahr 1943 mindestens 17[10] Häftlinge das Leben.
Am 15. August begannen Unterkühlungsversuche unter der Leitung der Ärzte Holzlöhner, Finke und Rascher. Sie dienten dem Zweck, in Seenot geratenen Fliegern besser helfen zu können. Offizieller Abschluss der Versuche war im Oktober 1942. Rascher verlängerte die Versuchsreihe auf eigene Faust bis zum Mai 1943. Die Zahl der Versuchspersonen lag zwischen 220 und 240 Personen, wovon etwa 65 bis 70 Häftlinge umkamen.
Am 1. September wurde Martin Weiß neuer Kommandant. Er war von Pohl scharf[38] angewiesen worden, besser auf die Erhaltung der Häftlingsarbeitskraft zu achten. Während seiner Kommandantur wurde daher die Strafe des Pfahlhängens abgeschafft, Schikane, Schläge und Appellstehen wurden weniger häufig, Häftlinge durften öfter in ihre Wohnbaracken. Vor allem wurden Gewicht und Anzahl von Lebensmittelsendungen nicht mehr beschränkt. Es trafen mehr Pakete ein, einige Häftlinge waren nun sehr gut versorgt, ein reger Tauschhandel entstand. Unter den Häftlingen bildete sich eine Differenzierung aus.[39] Sowjetische Häftlinge konnten keinen Kontakt zu ihrer Heimat haben und bekamen keine Pakete zugeschickt. Wer genug Pakete bekam, konnte nun auch bei Funktionshäftlingen die Aufnahme in ein gutes Arbeitskommando bewirken.[40]
Nach dem Befehl Himmlers vom 5. Oktober 1942, die in Deutschland liegenden Konzentrationslager judenfrei zu machen, deportierte die SS alle jüdischen Häftlinge Dachaus in das KZ Auschwitz.[41]

https://de.m.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6tungsanstalt_Hartheim

An dem folgenden kopierten Abschnitt interessieren mich die Namen der Pflege- und Heilanstalten. Ich bekenne: Ich habe noch nie davon gehört, auch nicht von Hartheim und erst im vergangenen Jahr von Grafeneck.

Aus Wikipedia:

Todesopfer


Gedenktafeln in Schloss Hartheim
Im Rahmen der Aktion T4 war Hartheim das Mordzentrum für Opfer aus der „Ostmark“, aus Bayern und der Untersteiermark:[22]
• Aus der Landesheil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke „Am Feldhof“ in Graz mit 2100 Betten kamen die ersten beiden Transporte im April und Mai 1940 mit rund 400 Patienten nach Hartheim
• Aus der Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling mit 2000 Betten wurden zwischen Mitte Juni bis Mitte Juli 1940 ungefähr 600 Patienten nach Hartheim gebracht.
• Aus der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien in Ybbs an der Donau mit 1650 Betten begannen die Transporte in der zweiten Augusthälfte 1940.
• Aus den großen bayerischen Anstalten, der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München, Kutzenberg und Regensburg wurden beginnend mit Sommer 1940 Patienten nach Hartheim gebracht.
• Aus der Landesnervenheilanstalt Gugging in Niederösterreich wurden die ersten Transporte im September 1940 nach Hartheim geführt.
• Aus der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof in Wien mit fast 4000 Betten wurden mehr als 3200 Patienten nach Hartheim gebracht und ermordet.[23]
• Aus der der Heil- und Pflegeanstalt in Hall in Tirol und dem St. Josef-Institut in Mils bei Hall kamen die ersten Transporte im Anfang Dezember 1940 nach Hartheim.
• Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Valduna in Rankweil wurden im Februar 1941 etwa 130 von 200 Patienten abtransportiert.
• Aus der Landesheil- und Pflegeanstalt Salzburg-Lehen begannen die Transporte im April 1941.
• Aus den Anstalten in Celje und Maribor wurden nach der Okkupation Jugoslawiens im Balkanfeldzug (1941) die zur Ermordung bestimmten Personen über die Anstalt Feldhof

Ich denke:  An den beiden folgenden Listen interessiert mich die Anzahl der Geistlichen:

Bekannte Todesopfer

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• Richard Aspöck (1919–1941), österreichischer Gärtnergehilfe
• Teodor Drapiewski (1880–1942), polnischer katholischer Priester
• Erwin Hanslik (1880–1940), österreichisch-polnischer Kulturgeograph, Historiker und Publizist
• Bernhard Heinzmann (1903–1942), deutscher katholischer Priester
• Friedrich Karas (1895–1942), österreichischer katholischer Priester
• Jan Kowalski (1871–1942), polnischer Bischof der Altkatholischen Kirche der Mariaviten
• Friederike (Friedl) Roth geborene Reichler (1900–1940), Ehefrau des Schriftstellers Joseph Roth[24]
• Ida Maly (1894–1941), österreichische Malerin
• Gottfried Neunhäuserer (1882–1941), österreichischer Benediktinerpater
• Werner Sylten (1893–1942), evangelischer Theologe
• Aloisia Veit (1891–1940), Entfernte Verwandte von Adolf Hitler[25]
• Maria Karoline von Sachsen-Coburg-Gotha (1899–1941) Linie Kohary, 1941 auf Schloss Hartheim ermordet.

Zu den Geistlichen

Insgesamt ermordete man 310 polnische, sieben deutsche, sechs tschechische, vier luxemburgische, drei niederländische und zwei belgische Priester. Zahlreiche von ihnen waren aus dem Pfarrerblock des Lagers Dachau abtransportiert worden.[26] Auch der Geistliche Hermann Scheipers war in den Invalidenblock verlegt worden, um nach Hartheim verbracht zu werden. Scheipers Schwester – die in Briefkontakt mit ihrem Bruder stand – wandte sich an einen gewissen Dr. Bernsdorf, Mitarbeiter des RSHA Berlin-Oranienburg, der für die Priester im Pfarrerblock zuständig war. Angeblich konfrontierte sie ihn, im Münsterland sei es ein offenes Geheimnis, dass inhaftierte Priester ins Gas geschickt würden. Bernsdorf sei bei dem Gespräch angeblich nervös geworden und telefonierte mit der Kommandantur von Dachau. Scheipers berichtet, es sei noch am selben Tag, dem 13. August 1942, eine Reaktion erfolgt: Er und drei weitere deutsche Geistliche wurden vom Invalidenblock (hier sammelte die SS Häftlinge für den Abtransport) zurückverlegt in den Pfarrerblock.[27]

Ich frage mich: Können wir Menschen, viele Alte, mit panischer Angst vor „Heimen“, Krankenhäusern, „Anstalten“ verstehen? Was für ein weites Feld liegt da noch vor uns, nicht nur das ins Dunkel gesunkene Wissen wie einen immens wichtigen Schatz zu heben?

Es folgen Listen von Ärzten und Pflegepersonal, Verwaltungspersonal, sog. Brennern, versuchte Auflistung der Prozesse, wenn es welche gab, sowie derer, die sich durch Suizid einer Verantwortungsübernahme entzogen.

Ich informiere: Ich kopiere jetzt nur zwei kurze Absätze, die die Möglichkeit des Gedenkens aufzeigen. Erkennen muss ich, dass ich mich geirrt habe. Nicht wenige Orte bzw. Anstalten liegen in Österreich, und wir haben deshalb keinen Bezug dazu.

Aufarbeitung und Gedenken

Im Schloss gibt es den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim. Die Neukonzeption dafür wurde 1997 vom Land Oberösterreich und dem Landeswohltätigkeitsverein beschlossen. Die baulichen Spuren der Tötungsanstalt wurden danach freigelegt und gesichert. Unmittelbar anschließend an die Tötungsräume ist ein Raum der Stille gestaltet worden. 2003 wurde der Lern- und Gedenkort und die Ausstellung „Wert des Lebens“ eröffnet. In den ehemaligen Funktionsräumen der Täter werden umfassende historische Informationen geboten.
Von 2003 bis 2023 besuchten rund 500.000 Menschen den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim.[73]
2001 wurde am Donauufer zwischen Brandstatt bei Wörth (Ortsteil von Pupping) und Wilhering auf der Höhe der Ortschaft Gstocket (Gemeinde Alkoven), wo die Asche der Euthanasieopfer aus Hartheim in die Donau geschüttet wurde, auf Initiative des Vereins Schloss Hartheim ein Gedenkstein errichtet. Die Inschrift auf dem sehr großen Donaukiesel stammt von dem oberösterreichischen Schriftsteller Franz Rieger: „Das Wasser löschte die Spuren, die das Gedächtnis bewahrt.“ Eine zusätzliche Informationstafel erläutert die historischen Zusammenhänge. Der Stein steht bei Stromkilometer 2.148,5 m, Wendeplatz, auf dem Südufer. Erreichbar ist die Stelle über die Zufahrt zum Donaukraftwerk Ottensheim/Wilhering.

Ich frage michWas war der Zweck von Dachau?

Dachau war Ausbildungsort für KZ-Wachmannschaften und SS-Führer, die nach Beginn des Zweiten Weltkriegs auch in Vernichtungslagern eingesetzt wurden. Das KZ Dachau war kein Vernichtungslager; jedoch wurden in keinem anderen KZ so viele politische Morde verübt.

Hier geht mein Text weiter:

Endlich bin ich ans Ende der „Alten Römerstraße“ gelangt, nach links geht es durch den von Fotos bekannten Eingang. Schade, dass es beginnt zu regnen. Der geräumige Raum, der als Café und Restaurant dient, ist geschmackvoll und zurückhaltend eingerichtet. Ich sehe, dass die letzte Führung für heute schon begonnen hat. An den Wänden und an Stellwänden sehe ich Informationen, Fotos. Das ist mir alles zu viel und zu wenig.

Ich beschließe, mir die „Drei Grundsätze“ von Bernie Glassmann Roshi zu vergegenwärtigen, den Auftrag, den ich mir selber erteilt habe und das Minimalprogramm, das ich gerade an solchen „unterversorgten Orten“ gerne anwende: Sitzen (hatte ich in den Bahnen) – Gehen (hatte ich in den langen Straßen) und bis ich hier war – Sitzen – Chanten.

Mit dem Gehen in Stille und Sammlung mache ich erst einmal weiter. Einen riesig erscheinenden Platz überquere ich und werde immer langsamer. Da hinten sind die konfessionell getrennten Gedenkräume, dorthin zieht es mich. Schritt für Schritt gehe ich an nummerierten Reihen entlang. Es ist öde und dauert. Für alle, die hier waren, war es öde und hat gedauert. Das Schöne war nie von Dauer und nie ein Genuss – essen zum Beispiel, schlafen, ausruhen, ein gutes Gespräch -, das Hässliche, Langweilige, Beängstigende, Anstrengende und Schmerzende sollte hingegen von Dauer sein. Das entspricht so ungefähr unserem Begriff von „Hölle“. Eigentlich waren die Peiniger doch auch in der Hölle, geht mir durch den Kopf, also beide sind in der Hölle, nur die einen sind die Bestimmer.

Ich erinnere mich nicht, ob ich an Gräbern vorbeigehe, hin und wieder stehen bleibe. Familienmitglieder meines Freundes sind…bei Zwangsarbeit … verreckt? Umgebracht worden? Von hier noch woanders hingebracht worden? Vielleicht habe ich auch nicht richtig zugehört. Mir fehlte die Kraft, der Mut nachzufragen. Wie ich auch nie nach dem Namen fragte, über den ich mich von Anfang an wunderte. .

Als ich am Ende der Reihen angekommen war, erblickte ich Hinweisschilder zu den konfessionellen Kapellen. Eins war mir klar: Ich wollte zur Synagoge.
Hier bleibe ich stehen. Ich chante, bin alleine. Rede laut, innen, gehe beklommen, nach unten. Mein Herz klopft spürbar, mein Atem wird langsam. Ich werde geführt.
Herr. Sage ich. Ich weine, aber beim Schreiben jetzt. Ob ich da unten geweint habe, erinnere ich nicht. Mutter. Denke ich. “Kanzeon, na mu butsu …**” –  Rosen hatte ich mitgebracht, einige verblühte Rosen. Eine habe ich für diesen Ort reserviert, für die Verluste meines Freundes.  Ich setze mich auf die Erde, an die Mauer gelehnt.

Sitzen. Ein guter Platz.

 

ADDENDUM:

Vor zwei Tagen fand ich die Inspiration, das Fotoalbum zu suchen, das meine Mutter hinterlassen hat. Da ich die einzige bin, die sich für diese alten Zeugnisse interessiert, schickte mir meine Schwester Ulrike ein schweres, großes Paket, viel zu groß für meine kleine Wohnung, mit etwa fünf oder sechs Alben.
In der Zwischenzeit, als ich begonnen hatte, über München und Dachau zu schreiben, versuchte ich, in die Atmosphäre meiner Kindheitserinnerungen einzutauchen, im Haus meiner Oma Katharina Strunk in Schafstedt oder in der Wohnung von Tante Nati in Hamburg. „Eicke“…, plötzlich erinnerte ich mich, dass Eicke oder Eike der Name einer lieben Freundin der Familie war, einer ehemaligen Hausangestellten im Haus meiner Großeltern. Es wurde viel über sie gesprochen, denn sie war auch nach Hamburg gezogen, wenn ich mich recht erinnere. Erleichterung. Ich glaube nicht, dass Theodor Eicke gemeint war.

Aber was ich gefunden habe, ist nicht wirklich besser oder erleichternd, wie ich es gerne gehabt hätte, wider besseres Wissen. Meine junge Mutter, 16 Jahre alt (?), steht an der Seite eines hochdekorierten Generals. Die Namen sind da, ich muss sie nur nachschlagen. Ein anderer General schüttelt Hitler die Hand, alle scheinen zufrieden zu sein, auch die Person, die uns diese Bilder hinterlassen hat. Meine Mutter. Sie hatte diese gewisse Haltung geschätzt – “Charakter” würde sie die Haltung vielleicht nennen. Schwer zu ertragen. Natürlich passte ich nicht in eine solche Familie, die nichts gelernt hatte. Ich schätze, sie waren stolz darauf, an ihren früheren Überzeugungen festzuhalten. Vielleicht war einem sonst nichts geblieben. Einer der Generäle, hatte ich gelesen, galt als Pionier … für WAS? Wie froh bin ich, über die buddhistischen Übungen, sich die Eltern z.B. als Kinder vorzustellen und über die Identifikation mit Hunderten von Schreibgruppenmitgliedern und deren schriftlicher Zeugnisse einen Zugang gefunden zu haben zu den schwer erträglichen Seiten meiner Eltern. Meine Mutter habe ich so gut wie in den Tod begleiten dürfen, unsere letzte Trennung auf materieller Ebene war tief, still und friedvoll. Über meinen Vater schreibe ich ein anderes Mal. Bei zwei der schweren Teil-Amputationen am Bein war ich an seinem Krankenbett gewesen.

Laut einem geschätzten Buch über Familiengeheimnisse sind Gruppengeheimnisse, kollektive Straftaten, die geleugnet wurden, besonders giftig: Sie wirken sich über den Tod hinaus auf das System aus. Dies würde ich und eine ganze Generation und deren Kinder noch spüren, und nicht nur das. Da war noch mehr. Ein enormer ethischer Schaden wurde angerichtet: Die Lügen türmten sich auf, und Süchte aller Art sollten die nie begrabenen Ungeheuer verdecken. – Es stimmt also nicht, dass wir nichts tun können. Menschen, die so argumentieren, bevorzugen den Status quo.
Es gibt tatsächlich so viel zu tun, mehr als für ein Leben. Wir müssen nur auf jeden Wunsch verzichten, um die Veränderungen zu sehen, wie wir sie uns vorstellen und in der Lebensspanne, die wir haben. Man muss lernen, sich an dem Wunder zu erfreuen, einfach das zu tun, was die Toten, die Situationen uns auffordern zu tun. Wir leben alle in Beziehungen, also ist es von großem Interesse, wie wir die Beziehungen in unserem Leben gestalten. Das hat Auswirkungen auf unser eigenes Sterben und auf das Leben und Sterben unserer Kinder und unserer Liebsten. – Die Welt könnte durchaus anders sein, sie ist es ja schon, während ich sie – trauernd, betend, zutiefst verbunden und zuversichtlich –  in die Existenz hinein atme und schreibe.

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*Tong-len: Eine Atempraxis aus dem tibetischen Buddhismus, die in Kurzform “Nehmen (den Schmerz der Anderen) und Geben (Liebe, Fürsorge) bedeutet.

**Kanzeon ist der Buddha des Mitgefühls